Die Online-Kulturzeitung für Stuttgart und Umgebung


Hochleistungssportler am Kontrabass

Übergroß sind die Instrumente, selten hört man sie in kammermusikalischer Formation. Aber jetzt! Die Ludwigsburger Schlossfestspiele präsentierten in ihrem Format „Frei Luft Musik“ ein Kontrabass-Quartett. Holger Schneider hat es sich angehört.

Unter den vierzig herzerfrischenden Bildergeschichten, die der Cartoonist Hans Traxler Anfang der 80-er unter dem Titel „Leute von Gestern“ unter die Leute von gestern brachte, findet sich an dritter Stelle jene, die so anfängt: „Anton Dvořák mit dem Kontrabass sitzt auf der Straße und er spielt sich was…“ – Na, klingelt sich da auch was? Das ähnlichlautende Lied, das ich als Kind bis zum Umfallen liebte und krakeelte, muss in seiner perfiden textlichen Grundschnapsidee mittlerweile und bis auf Weiteres im Giftschrank rassistisch hochwirksamer Kampfmittel verwahrt bleiben. Drum bediene ich mich des lieben vollbärtigen Böhmen als Einstiegsmaskottchen… um…

… über die drei Ecken meines Hutes zum Halbkreis des Quadrats zu gelangen:

Dvořák haben sie nicht gespielt, die drei plus eins (*) rudimentär bartbehafteten Herren des „Kontrabassquartetts des Festspielorchesters“ der Ludwigsburger Schlossfestspiele – in welche es mich am frühen Freitagabend unter den Wurschtfetthimmel des dortigen Marktplatzes getrieben hatte. Was für eine blöde Idee – dachte ich. Lieber daheim auf den verspäteten Frühling warten, was machst du hier, da stehen vier Mannsbilder in weißen Hemden, schwarzer Fliege, zweimal Hosenträger, ohne Jacketts, schnoddrig-ordentlich im Halbrund vor dem Marktbrunnen, und es ist eigentlich ein wenig ungemütlich…

Und dann redet – nach einer hausgemachten Telemann-Intro – auch noch einer von denen (wohl so ne Art Primarius?) irgendwas von einem Autodidakten aus einer syrischen Familie, die in den Libanon gezogen war, dessen Bruder Schlagzeuger war und dem 14-Jährigen vom Flohmarkt einen Kontrabass mitgebracht hatte, woraufhin jener, nach eifrigem Studium einer Kontrabassschule, nach Paris pilgerte, um sich dort bei einem leider bereits verstorbenen Professor in die Lehre zu begeben…

„Kobolds“ – geniales Stück von François Rabbath, dem genialen Jazz-Bassisten, macht das Bassfass dann aber mit einem Schlag auf: Aus den vier Herren werden Hochleistungssportler, die sich mit enormer Verve und Freude fürbass ins Zeug legen und einen Hit nach dem anderen auflegen, jeweils charmant anmoderiert durch Solobasser Matthias Weber. Dass es dabei auch mal schief und krumm und rhythmisch nicht immer bassgenau zusammen daherkommt – voll korrekt! Ein perfekt homogenes Kontrabassquartett wäre sicher kein Ensemble, dem man eine Stunde seines Lebens widmen wollte.

Der kunterbunte Mix aus Evergreens und Unerhörtem ist geschickt zusammengestellt, für alle Menschen groß und klein ist etwas dabei, und sie lassen sich allesamt anstecken, von einem furiosen Allegro vivace des Schweden Jan Alm genauso wie vom Piazzolla-Tango, vom unverwüstlichen „Besame mucho“ (schmacht!) oder von Henry Mancinis „Pink Panther“ (vom Publikum auf das schöne Wort „Tischdecke“ rhythmisch untermalt). Bei „Liebesleid“, einem von vier famosen Comedian-Harmonists-Arrangements aus der Feder des jungen Matthias Weber, schwebt auch Intendant Jochen Sandig im siebten Himmel: Einer von über dreihundert begeisterten Leuten mittendrin im herrlichen Geschwelge und schwummrigen Geschunkel zum hummelbrummelnden Bassgeigenreigen. Da kommt natürlich, wie gerufen, auch noch die Sonne raus…

Und ganz am End – nach „Strauss in the doghouse“ – noch ein echt süßer Rausschmeißer für die Leute von Gestern: „Yesterday“, wunderlieblichst arrangementverquickt mit dieser – – – na, welche war es denn nur – – – Passacaglia oder was auch immer, halt so ein Dingens, wo der Bass sich immer tiefer in die Kadenz einlullt, während die Stimmen obendrüber in Wonnewogen wallen und aufschäumen und wieder abebben und dich sacht in den Immerwieder-Strudel reinsaugen, als wäre dort unser aller Zuhause… Also verflixt, es fällt mir nicht mehr ein – – – (Update, letzte Nacht im Traum: „Da kam die Polizei, fragt: Was ist denn das? Pachelbels Kanon mit vier Kontrabass‘“).

(* Solobassist Matthias Weber [HMDK Stuttgart] und seine drei Festspielkollegen aus dem Staatsorchester Stuttgart: Aaron Pagani, Benedikt Büscher und Lars Jakob)

Foto: Holger Schneider

www.schlossfestspiele.de


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Aktuelle Beiträge

  • Verrückte Welt, verdrehte Logik
    Von wegen Schrebergarten! Nicht den Vereinsmeiern, sondern dem Sohn des zweifelhaften Namenspatrons widmeten sich die Neuen Vocalsolisten im Theaterhaus mit den „Schreber Songs“. Das Ende ist Wahnsinn, und Holger Schneider war dabei.
  • Wie war’s bei „Gianni“ in der tri-bühne?
    Während des Viertelfinales Deutschland – Spanien war im Theater tri-bühne der ebenfalls live gespielte Opernfilm „Gianni“ nach Puccinis Einakter „Gianni Schicchi“ zu sehen. Ute Harbusch und Petra Heinze haben sich für’s Theater entschieden und dabei gewonnen.
  • Wie der Fleck zur Vase fand
    Menschlich-tierische Zwischenwesen und ein rätselhafter Fleck: „Just before Falling“ im FITZ, präsentiert vom El Cuco Projekt, spielt zwischen Urzeit und Apokalypse. Unsere Redakteurin Ute Harbusch fand die Performance irritierend und tröstlich zugleich.
  • Das Sommerrätsel: Wer schrieb das?
    Eine Schar blonder Jünglinge warf Bierdosen nach mir. Und dann warfen sie Steine. Und dann wurden die Steine größer. Und dann blieben die Steine in der Luft, sie saßen mir im Nacken, sie trafen mich erst, wenn ich mich umdrehte.
  • Wie war’s mitten im Orchester bei den Stuttgarter Philharmonikern?
    Statt in den Stuhlreihen vor dem Orchester einmal zwischen den Geigen und den Hörnern sitzen? Die Reihe „Mitten im Orchester“ der Stuttgarter Philharmoniker macht es möglich. Unsere Redakteurin Ute Harbusch erlebte so Schuberts Große C-Dur-Sinfonie unter Leitung von Mario Venzago und schildert Petra Heinze ihre Eindrücke.