Performance der Neuen Vocalsolisten im MdJ-Probenraum, Foto: Holger Schneider
Unser Autor wirft einen so persönlichen wie poetischen Blick auf zwei Konzerte des Sommerfestivals von Musik der Jahrhunderte (MdJ) im Theaterhaus.
Endlich wieder neue Neue Musik! Wie aufregend cool, mittendrin, dazu noch in einem richtigen Festival!
Blick ins kluge Erklärheft. Eine „Archäologie der Klänge“ soll es werden, das Konzert mit dem Ensemble Ascolta am zweiten Festivalwochenende im „Sommer in Stuttgart“ der Musik der Jahrhunderte. Wenn nicht – und da sitzt sich der erwartungsberstende Gast gleich mehrfach selbst im Wege – ja, wenn nicht die visuelle Ebene wäre, wenn da nicht aus dem voyeuristisch unterstützten Blickwinkel von sacht oben herab, bequem sesselvertieft und klimatisch wohltuend umfächelt, diese anhaltend hilflose Reflexion störte: Warum habt Ihr uns nicht mitten hinein in den magischen Bühnenraum genommen, die wir uns im T2 aus der Ferne mehr oder weniger distanziert mit dem Geschehen da vorn auseinanderzusetzen haben?
Die dramaturgische Klammer bleibt im Ungewissen jener Tiefe, in denen die Musik schürft, während ich von jenseits zuschaue, ohne dass die Ohren ins Innere vordringen: Bemühungen um die Freilegung der Artefakte stehen im Wege des Auges, das dem Ohr die Sinne streitig macht: Warum wandelt der Bassetthornist da hinten in die Ecke? Warum ist die asketische kalligrafische Visualisierung derart unkalligrafisch und verpixelt? Warum vernehme ich (k)einen Mucks von dem, was in mimischer Bedeutungs-Zeitlupe (ja keine Nebengeräusche!) – im Innern des Tasteninstruments herumgefuhrwerkelt wird? Warum ist derlei Anschaulichkeit geeignet, den Hörsinn außer Raison zu bringen? Gerate ich zum vollends überforderten Sesselhüter, nicht annähernd mit den Wassern des Neue-Musik-Hörens gewaschenen, offensichtlich Rezeptionsunkundigen?
Die Nebengeräusche: Grenzen zwischen dem Grabungsort drinnen und dem überhitzten Staubmoloch draußen verschwimmen, als ein Helikopter übers mitrumorende Theaterhaus schmettert und rhythmisches Getrampel aus den Theaterhaus-Sedimenten obendrüber die Ordnung des Konzertlabors für Momente stört: Archäologie und Bewegung – schon immer eine schwierige Liaison. Eigene Notizen zu den Werken (allesamt mit Frage- und Ausrufezeichen) bleiben mir selbst kaum mehr entschlüsselbar. Ein Konzert wie vom Erdboden verschwunden, nicht ohne tektonische Amplituden und, ja freilich: Erinnerungsfetzen an Augenblicke des Aufhorchens und der Überraschung respektive kurzzeitiger Entsesselung (Keller, Lévy, Spitzenmomente der Musiker:in!).
– – – Schnitt – – –
Eine halbe Stunde später. Obendrüber wurde vorsorglich eine Sauna eingebaut. Tapferes Verharren vor Probenraum P1, Ort des nächsten Geschehens, als „magischer Raum“ angekündigt: „Looking Out Into a Room“ von Ricardo Eizirik erwartet uns, und die Sache wird tatsächlich zu einem verrückten, verstörenden, elektrisierenden und streckenweise enorm erheiternden Ereignis, heißer als die Hitze, die schnell weggefächelt ist.
Schlaglichter aus dem Stimm-Raum-Kunstwerk der grandiosen Neuen Vocalsolisten: Während sich im magischen Raum hinter uns die Superstimmen (plus tape) zu einem atemberaubenden madrigalischen Exzess ausbreiten (unbedingt hören: „ir“ von Manuel Hidalgo Navas), sind wir gezwungen durch die riesigen Fenster nach draußen zu schauen, auf Prospekte zweifelhaft kühner Bauideen, da wo einst eine putzbröckelnde Ziegelwand war, die in diesem Moment irgendwie furchtbar fehlt. Vor uns Monitore, die Menschen hinter Glas zeigen, jenem, welches die Drohne draußen von uns trennt. Die filmt uns live mit einer Schamlosigkeit, die bereits hinter der Idee steckt, sie auf uns loszulassen. Gefangen in der Unabänderlichkeit des Hinsehenmüssens (wer wollte sich vor aller Augen umdrehen?), in der endlosen Klammer zwischen vorgestern und übermorgen, hinter und vor uns, unten und ganz oben – was für eine zutiefst aufwühlende Installation! Die Kraft der Worte des Sonetts von Lope de Vega (alma, die Seele, hören wir immer wieder) füllt den Raum über die Leidenschaft der unsichtbaren Sänger:innen und hallt nach in die nächste Atemlosigkeit. –
Wandeln im Kreis um das Ensemble (das strengt an, weil es den Rhythmus normalen Gehens völlig entfremdet), dazu nun irre abgefahrene, kontrastberstende Ideenfeuerwerke aus der Feder von Mauro Lanza, ergänzt durch ein Sammelsurium ulkiger Klangerzeuger:innen – Gummigrunzschweinchen und Furzkissen inklusive! Neugierige Blicke in die Noten gelingen im Vorbeigehen nicht zufriedenstellend (Abstand halten!). Ein endlich wieder sitzend goutiertes Pendant für drei Stimmen in unterschiedlichen Mixturen „with objects“ von Jennifer Walsh führt uns schließlich „backstage“ zu Carola Bauckholts „Witten Vakuum“ für zwei Frauenstimmen mit zwei Staubsaugern plus Nebel(Staub-)maschine. Kannte ich nicht! Musste mich angesichts der Coolness, mit der die beiden auswändig agierenden Stimmkünstlerinnen die Staubsaugerstutzen zu stimmgeräuschorchestralen Multimegaphonen umfunktionierten (zamonische Trompaunenmusik der Nebelheimer muss ähnlich geklungen haben!) in hemmungslose Lachkrämpfe begeben. Konstatierte, dass ich möglicherweise einsam war in meiner unreflektierten Belustigung. Egal.
Am Ende Ricardo Eizrik „in steps“, ein ganz mitreißend rhythmisches neues Etwas in der Vokalmusik von heute: Fünf der Vocalsolisten singen, piepsen, zischen, brabbeln, hauchen, prusten, der sechste („controller“) bestimmt über eine Einhandklaviatur (Baumarktscharnierbeschläge über gefederten Tastrelais im fein abgeschliffenen unlackierten Holzgehäuse) mit stoischem Blick in die Partitur über die genauen (und abrupten) Ein- und Ausschaltzeiten der Stimmen über Verstärker. Nochmal atemberaubend, rundum faszinierend, wie dieser ganze magische zweite Abend!
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