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Sind Kritiken heute noch relevant?

Björn Gottstein, Foto: Martin Sigmund

In einer Zukunft, die es uns ermöglicht, eine Kesseltöne-Redaktion mit festem Kritikerstamm zu installieren, finden Sie hier täglich eine Musikkritik. Für diese Nullausgabe, die voraussichtlich über längere Zeit im Netz steht, haben wir stattdessen Künstler, Kulturschaffende und Kritiker gefragt, ob und warum ihnen Kritiken wichtig sind.

Natürlich wäre es vermessen, wenn man an die Kräfteverhältnisse in einer  Demokratie erinnert und die Notwendigkeit einer unabhängigen, neutralen Instanz beschwört, um der Musikkritik ihre Relevanz zu bescheinigen. Dennoch müsste das Musikleben ohne einen Akteur, der nicht selbst Komponist, Musiker, Veranstalter, Agent oder hörender Laie, sondern ein professionell kritisch Hörender ist, verkümmern. Auch sagte Mauricio Kagel einmal, er lese oft lieber etwas über Musik, als dass er sie höre.
Björn Gottstein, Künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage

Musikkritiker können Fans sein, Vermittler und Fackelträger. Manchmal sind sie aber auch Politiker, Parteigänger, Neider und Intriganten. Sie sind Menschen im Publikum, die im besten Fall ein bisschen mehr wissen als andere, die neben ihnen sitzen. Unermüdlich erschöpfen sich Kritiker beim eigentlich unmöglichen Unterfangen, die sprach- und begriffslose Musik mit Sprache zu fassen. Manchmal sind Kritiker die, deren Meinung man lesen will, um zu wissen, ob es einem im Konzert gefallen hat. Manchmal sind sie aber auch die, die offenbar in einer anderen Veranstaltung waren, jedenfalls aber – was jeder gesehen hat – vor der fünften Zugabe gegangen sind. Ohne Musikkritik könnte die Musik sicher leben. Aber es gäbe keinen, der ihr sagen könnte, warum.
Susanne Benda, Musikredakteurin

Es ist abgedroschen, aber: Lieber ein ordentlicher, gut geschriebener und begründeter Veriss als die höfliche Zurkenntnisnahme einer Veranstaltung ohne eigene Position seitens des „Kritikers“. Was konnte zum Beispiel dem Bayreuther Ring 1976 von Chéreau und Boulez Besseres passieren, als die damalige totale Ablehnung dieser Aufführung durch die Kritik? Die Geschichte hat es gezeigt…Dafür braucht es aber Kennerschaft und Meinung, die auch formuliert werden will. Um den Diskurs zu befeuern. Um Kritikfähigkeit überhaupt am Leben zu erhalten. Gegen den faulen Konsens, die Vereinheitlichung und die lähmende Gemütlichkeit. Habt Stacheln und piekst!
Mark Lorenz Kysela, Saxophonist

Sinnliches Erleben und Reflexion greifen in der ästhetischen Erfahrung eng ineinander und erhellen sich wechselseitig. Rezensionen leisten eine solche Reflexion idealerweise, indem sie Erlebtes auf den Begriff bringen. Nachvollziehen lässt sich das aber nur für diejenigen, die der Aufführung selbst beigewohnt haben. Für alle anderen reflektiert die Rezension eine Erfahrung, die unwiederbringlich in der Vergangenheit liegt. Ohne Konzertbesuch Rezensionen zu lesen, ist wie Fotos von Essen zu betrachten: Im besten Fall machen sie Appetit.
Jan Kopp, Komponist

Musik ist mehr als Unterhaltung und Komponisten sind mehr als unterhaltsame Dienstleister. Musik ist ein unschätzbares Kulturgut. Fundierte, professionell schreibende Musikkritiker retten die Musik davor, nur konsumiert zu werden. Denn als gute Kritiker
– bewerten sie nicht nur, sie entdecken neue vielversprechende Talente jenseits des Mainstreams.
– beobachten sie den Musikmarkt und wirken als Korrektiv.
– treten sie mit Musikern, Komponisten und Publikum in einen konstruktiven Dialog.
– schieben sie neue Entwicklungen mit an.
Fazit: Gute Musikkritiker sind für das Musikleben so wichtig wie das Fundament für ein Haus.
Annette Eckerle, Musikjournalistin und PR-Frau

Musikkritik muss einen Spagat ausführen zwischen fachlich begründbaren Erwartungen der ausübenden Professionellen und einem Publikum, das Musik lediglich liebt und aus dem Gefühl heraus beurteilt. Sie muss mögliche Fehleinschätzungen beider Lesergruppen glaubwürdig voraussehen und obendrein so formulieren, dass sie ihre eigene Meinung nur daneben, nicht darüber stellen will. Der Gefahr, lediglich Deskriptives zu liefern, sollte sie ebenso ausweichen wie eigener, möglicher Entblößung ungenügenden Fachwissens und Einfühlungsvermögens entgehen. Da nur ein Teil der Leser die Aufführung, über die berichtet wird, gehört hat, muss ihr Beitrag, um überhaupt Interesse finden zu können, so spannend erzählt werden wie ein Kriminalroman oder eine laufende Sportreportage, bei denen der Ausgang der Geschichte offen ist. Eine schwere Aufgabe, die lediglich, wenn sie auf viel Zeit zur Verfügung und auf genügend interdisziplinäre Fähigkeiten bauen kann, wirklich sinnvoll ist. Aber das ist bisher selten, leider zu selten der Fall.
Frieder Bernius, Dirigent und Künstlerischer Leiter des Musikpodiums


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