Der Londoner Tenebrae Choir, der am 4. Juni beim Musikfest Stuttgart gastiert, zählt zu den besten Chören der Welt. Warum das so ist, versucht Jürgen Hartmann im Gespräch mit dem Gründer und Chorleiter Nigel Short herauszubekommen.
Jürgen Hartmann: Mister Short, warum sind englische Chöre so gut?
Nigel Short: Das hat zum einen historische Gründe. Es gibt seit Jahrhunderten Chöre vor allem in den Kirchen und die Tradition, dass Chöre in der Liturgie mitwirken, wurde erhalten. In der anglikanischen Kirche sind Chöre ein wichtiger Teil der Identität, und das Chorsingen in der Kirche wurde in den letzten hundert Jahren unglaublich populär. Diese Popularität geht auch in England in den letzten dreißig, vierzig Jahren zurück. Aber die Mentalität und Disziplin solcher Chöre hat durchgefärbt auf heutige Spitzenchöre wie den Monteverdi Choir, die Tallis Scholars und auch Tenebrae, oder auf Vokalensembles wie die King‘s Singers. Das hat sicher geholfen, die hohen Standards zu etablieren, wir sind in gewisser Weise gesegnet, was die Sauberkeit und Genauigkeit des Chorgesangs angeht.
Jürgen Hartmann: Was hat noch geholfen?
Nigel Short: Britische Chöre können gut vom Blatt singen und deshalb ein großes Repertoire lernen und pflegen. Aber das heißt nicht, dass es in anderen Ländern nicht auch fantastische Chöre gibt! Und der beschriebene Segen ist auch ein Fluch: In Großbritannien haben wir ein riesiges Repertoire, aber wir erforschen es manchmal nicht intensiv genug, dringen nicht ausreichend in die Musik ein. Mit Tenebrae versuche ich, das Repertoire eher zu begrenzen und dafür so oft wie möglich aufzuführen. So kombinieren wir Leidenschaft und Genauigkeit.
Jürgen Hartmann: Warum haben Sie Ihren Chor ‚Tenebrae‘ genannt?
Nigel Short: Das hatte eine ganz wörtliche Bedeutung – Tenebrae heißt Schatten, und wir haben in der Anfangszeit unsere Konzerte bei Kerzenlicht gesungen. Als ich mit dem Chorsingen anfing, liebte ich die Gottesdienste bei Kerzenlicht zu Ostern und im Advent. Ich muss aber zugeben, dass ich über den Namen für den Chor nicht sehr gründlich nachgedacht habe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass wir 25 Jahre später noch bestehen würden!
Jürgen Hartmann: Heute hat Tenebrae eine professionelle Organisation, ein Team hinter den Kulissen. Wie lange dauerte es, dies aufzubauen?
Nigel Short: Das hat lange gedauert! In den ersten zehn Jahren hatten wir das Glück, dass sich finanzielle und organisatorische Unterstützung durch freundschaftliche Kontakte ergab. Zeitweise halfen auch Chormitglieder bei der Administration mit. Später wurde der Chor als gemeinnützig registriert und ein Kuratorium berufen. Einer unserer Unterstützer finanzierte die erste Vollzeitstelle für die Organisation und den Verkauf. Heute haben wir vier Vollzeitstellen in unserem hochprofessionellen Team und bekommen hoffentlich in den nächsten Monaten ein fünftes. In Großbritannien wird die Kunst vom Staat nur sehr wenig unterstützt. Also müssen wir kommerziell erfolgreich sein und das ist eine nervenaufreibende Existenz. Unser Kuratorium und unser Team sind essenziell für den Erfolg des Chors. Wir sind eng verbunden, es ist wie ein Kreislauf: Wenn das Team gut ist, ist der Chor gut und wenn der Chor Erfolg hat, wirkt das zurück auf das Team.
Jürgen Hartmann: Haben Sie für den Chor eine feste Besetzung?
Nigel Short: Nein, es gibt einen Pool. Den Kern machen etwa zehn aus, die ich für jedes Projekt frage. Darüber hinaus haben wir einen Pool von etwa zwanzig, die regelmäßig dabei sind und sich gut kennen. Und dann haben wir sechs jüngere sogenannte Associate Artists, die sozusagen eine Ausbildung bei uns machen. Sie tragen eine große künstlerische, stimmliche Verantwortung. Deshalb bekommen sie auch dieselbe Bezahlung wie die anderen. Auf diese Weise ziehen wir die besten jungen Leute an, denke ich.
Jürgen Hartmann: Wie verläuft die Ausbildung?
Nigel Short: Die jungen Menschen bleiben mindestens ein Jahr, meistens zwei Jahre bei uns und nehmen an so gut wie allen Projekten teil. Das machen wir seit sechs oder sieben Jahren und inzwischen besteht die Hälfte, wenn nicht zwei Drittel der Besetzung aus Sängerinnen und Sängern, die früher Associate Artists waren. Dieser stetige Prozess der Erneuerung ist sehr gut für den Chor. Er ermöglicht immer neue Energie, neuen Enthusiasmus, neue künstlerische Ideen. Es ist nicht so, dass wir uns zu einem neuen Projekt treffen, uns kurz verständigen und los geht’s, sondern wir arbeiten an jedem Projekt sehr gründlich.
Jürgen Hartmann: Ich habe den Eindruck, dass Sie weibliche Altstimmen bevorzugen. Stimmt das, und welche Gründe hat es?
Nigel Short: Ich liebe Countertenöre, ich war ja selbst einer! Aber für einen großen Teil unseres Repertoires bieten weibliche Mezzosopran- und Altstimmen einen größeren Stimmumfang und sie verbinden sich besser mit den Sopranen. Weil ich selbst ein Countertenor war, bin ich auch sehr wählerisch, was den Klang angeht. Es gibt nicht so viele, die Musikalität und Flexibilität so verbinden können wie eine Mezzosopranistin.
Jürgen Hartmann: Auf Ihrer Website werden ‚dramatische Programmkonzeptionen‘ versprochen und in einem Artikel über Sie ist vom ‚theatralen Stil‘ bei Tenebrae die Rede. Was bedeutet das?
Nigel Short: Auch das geht auf meine Erfahrung als junger Chorsänger zurück. Ich mochte immer Gottesdienste, die einen dramatischen Aspekt hatten, weil der Chor sich innerhalb der Kathedrale bewegte. Als erwachsener Sänger habe ich in den Bereichen Oper und Konzert gearbeitet. Und ich fand es ansprechend, diese beiden Welten, die sich so selten treffen, zu vermischen. Es gibt leider nicht viel Repertoire dafür und bestimmt will niemand, dass ich jedes Jahr eine zwanzigminütige Semi-Oper für den Chor komponiere, wie ich es ganz am Anfang mal gemacht habe! Aber wir bewahren einen Aspekt davon in unseren Konzerten, indem wir den Raum durch Bewegung nutzen. Die Johanneskirche in Stuttgart eignet sich wunderbar dafür, weil man dort von überall aus singen kann und vom Publikum immer deutlich gehört wird. Das ist für Ausführende und Publikum eine neuartige Erfahrung und es tut auch der Musik gut. Es ist in unsere künstlerische DNA eingegangen. Deshalb achte ich schon bei der Auswahl der Stücke darauf, ob man sie auch räumlich gestalten kann.
Jürgen Hartmann: Das Stuttgarter Publikum ist sehr vertraut mit Johann Sebastian Bach, aber wohl weniger mit James MacMillan. Kennen Sie den Komponisten gut?
Nigel Short: Wir haben uns zum ersten Mal vor etwa 20 Jahren getroffen. Ich bin ein großer Fan seiner Musik. Er ist ein sehr gläubiger Mensch, und das drückt sich in seiner Musik aus. Das scheint mir sehr gut zu Bach zu passen, auch wenn der eine Protestant und der andere Katholik ist. Ernst, Hingabe und Intensität kennzeichnen beide. Gleichzeitig bietet das Programm wundervolle Kontraste. Und der Chor sagt, es ist ein unglaublich schwieriges Programm, man muss technisch absolut sicher sein, um es zu bewältigen und am Ende noch genug Verstand und Stimme für Bachs „Singet dem Herrn ein neues Lied“ übrig zu haben!
Foto Tenebrae mit Nigel Short (Mitte): Sim Canetty-Clarke
Das Konzert von Nigel Short und dem Tenebrae Choir beim Musikfest Stuttgart findet am 4. Juni um 19.00 Uhr in der Johanneskirche statt. Weitere Infos gibt es hier.
Nigel Short war als Countertenor-Solist sowie als Mitglied der King’s Singers tätig und gründete 2001 den Tenebrae Choir. Unter seiner Leitung hat das Ensemble mit international tätigen Orchestern und Instrumentalisten zusammengearbeitet, und er hat Tenebrae u.a. bei den BBC Proms, in der Wigmore Hall und der Elbphilharmonie sowie beim Rheingau Musikfestival dirigiert.
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