Statt in den Stuhlreihen vor dem Orchester einmal zwischen den Geigen und den Hörnern sitzen? Die Reihe „Mitten im Orchester“ der Stuttgarter Philharmoniker macht es möglich. Unsere Redakteurin Ute Harbusch erlebte so Schuberts Große C-Dur-Sinfonie unter Leitung von Mario Venzago und schildert Petra Heinze ihre Eindrücke.
Petra Heinze: Liebe Ute, wie war es für Dich, mitten im Orchester zu sitzen?
Ute Harbusch: Es war für mich keine neue Situation, weil ich früher oft in großen Laienorchestern gespielt habe. Jetzt hatte ich genau meinen Wunschplatz erwischt: Ich saß hinter den zweiten Geigen und vor den Hörnern.
Petra Heinze: Wie waren Publikum und Orchester denn angeordnet?
Ute Harbusch: Wir waren etwa 200 Zuhörer:innen im Probensaal der Stuttgarter Philharmoniker im Gustav-Siegle-Haus. Die Hälfte saß in Sitzreihen vor dem Orchester, war aber schonmal ganz nah dran. Die andere Hälfte saß im Orchester verteilt: mal in Reihen direkt hinter den Streichern, mal zwischen den ersten und den zweiten Geigen, oder zwischen Horn und Flöte. Ein blonder Bub von sieben, acht Jahren hatte es zwischen die Kontrabässe geschafft und plauderte mit den Musiker:innen, bevor es losging. Nach der Hälfte der Zeit sollten wir die Plätze tauschen. Jetzt saß ich seitlich bei den hinteren Pulten der ersten Geigen. Weil ich selbst Cello spiele, wollte ich mal hören, wie’s auf der gegenüberliegenden Seite des Orchesterglobus tönt. Und ich war überrascht, wie scharf die Geigengruppe klingt. So direkt aus der Nähe war das kein schöner Klang.
Petra Heinze: Für das Orchester war das Musizieren vermutlich auch schwerer als sonst, oder?
Ute Harbusch: Durch das dazwischen sitzende Publikum war das Orchester sehr weit auseinandergezogen. Die Pauke war fast außer Sichtweite irgendwo am fernen Ende des Saales, auch die Trompeten und Posaunen waren ganz, ganz weit weg. „Seid ihr überhaupt da?“, hat der Dirigent Mario Venzago durch sein Mikro gescherzt. Vor jedem der vier Sätze der Großen C-Dur-Sinfonie hat er ein paar erklärende Worte über Schubert, sein kurzes Leben und sein bemitleidenswertes Schicksal gesagt.
Petra Heinze: Wo war der Dirigent?
Ute Harbusch: Da, wo er immer steht, vorne vor dem Halbkreis der ersten Streicherpulte, leicht erhöht auf einem Podest. Nur dass er eben noch zwei Zuhörer:innen direkt vor der Nase hatte.
Petra Heinze: Wie war sein Kontakt zum Orchester?
Ute Harbusch: Soweit ich gesehen habe, hat er versucht, Blickkontakt zu halten, auch mit den entfernten Bläsern, was aber praktisch unmöglich war. Seine Gesten kamen mir sparsam und verhalten vor, ab und zu ging ein großes Lächeln über sein Gesicht, ohne dass ich den Anlass dazu wahrgenommen hätte. Das, was sich unausgesprochen mitteilt, wenn ich selbst im Orchester spiele, hat mich jetzt als Zuhörerin nicht erreicht. Ich hatte den Eindruck, es gingen außer Tempoangaben keine Signale vom Dirigenten aus. Dabei ist Venzago ein berufener Schubert-Dirigent. Er hat vor ein paar Jahren die Unvollendete in einer aufsehenerregenden, natürlich nicht unumstrittenen Fassung vollendet.
Petra Heinze: Dann war Dein Hörgenuss eher getrübt?
Ute Harbusch: Ja, getrübt und gleichzeitig geschärft. Ich weiß nicht, ob das am Dirigenten lag oder an dieser künstlichen Situation. In der Wissenschaft gilt ja, dass du als Beobachter das störst, was du beobachten willst. Vielleicht konnte er sich nicht auf die Weise entfalten, wie wenn er nur das Orchester vor sich hätte. Das Format ist angekündigt als eine Situation „zwischen Probe und Konzert“. Es wurde ja nicht geprobt, sondern durchgespielt. Hier ging es um die klangliche Situation. Man hörte manches fast gar nicht, irgendein dumpfes Gegrummel aus der Ferne. Dagegen hörte ich von den Hörnern, vor denen ich saß, jeden Ton. Sonst, im großen Orchesterklang, höre ich sie, wenn sie ein Solo haben, aber nicht, wenn sie auf der Eins und auf der Drei immer einen einzelnen Ton spielen. Der klangliche Unterschied, abhängig von dem Punkt, an dem ich sitze, das war schon ein Aha-Erlebnis, aber die Magie des Orchesterzusammenspiels ist mir nach wie vor ein großes Rätsel.
Petra Heinze: Meinst Du, das ist vor allem ein Format für Menschen, die bisher noch keine klassischen Konzerte besucht haben?
Ute Harbusch: Es waren unverhältnismäßig viele Kinder im Konzert, die sich keine Sekunde gelangweilt haben. Es ist aber ein tolles Format für jeden und eine super Idee, auf diese Weise klassische Musik zu hören, weil man das reale Tun so unmittelbar vor Augen hat. Ich hatte speziell einen Musiker aus den zweiten Geigen direkt vor mir im Profil im Blick und konnte ihn erleben wie einen Kammermusiker. Man hat ja sonst nur beim Streichquartett oder Ähnlichem diese Nähe. Dieser junge Mann vor mir hat genauso wie der Primgeiger vom Quatuor Ebène die Musik mit Leben erfüllt, Mimik gemacht, sich bewegt zur Musik und sich angestrengt, wenn die schnellen Triolen im vierten Satz kamen. Immer, wenn künftig die Philharmoniker spielen, werde ich nach diesem jungen Mann Ausschau halten.
Symbolfoto: Pexels auf Pixabay
Am 9. Juni wird Schuberts Sinfonie in der Liederhalle aufgeführt: https://www.stuttgarter-philharmoniker.de/3933.html
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