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Die Dahliensorte Kaiser Wilhelm von 1881. Foto: Jürgen Hartmann

Kulturbeutel (1): Kaiser Wilhelm und die Stolze von Berlin

Lesezeit: 3 Minuten

Keine Reise ohne Kulturbeutel. Zur Reisezeit weichen die Kesseltöne ein wenig von den Pfaden der Hochkultur ab. Als Erster öffnet Jürgen Hartmann seinen Kulturbeutel und begibt sich auf die Suche nach dem Großen im Kleinen. Dafür ist sein Garten ein guter Ort, findet er.

Dass ein mehr oder weniger geordnetes Sammelsurium an Toilettenartikeln Kulturbeutel heißt, hat seinen tiefen Sinn: Der Ursprung des Begriffs Kultur war die Pflege von Körper und Geist, lehrt uns der Duden. Im Garten existiert sogar eine Doppelkultur: Man spricht von der Gartenkultur im historischen Sinn und vom Kultivieren, wenn es um den Anbau oder die Züchtung von Pflanzen aller Art geht, vom Urbarmachen des Bodens bis zur Ernte.

Zur Gartenkultur gehört auch eine weniger bekannte kulturelle Leistung: Das Benennen neuer Sorten, wenn eine Züchtung eingeführt wird und einen Namen braucht. Das geschieht mit viel Fantasie und zeugt nicht selten von der Allgemeinbildung der Namensgeber.

Der legendäre Staudenzüchter Karl Foerster, dessen privater Garten in Potsdam-Bornim vorbildlich restauriert und gut besucht ist, war mit einer ausgebildeten Sängerin verheiratet und zählte unter anderem den Pianisten Wilhelm Kempff zu den Freunden der Familie. Foerster, geboren 1874, züchtete zwar keine Dahlien, könnte aber die Dahlie „Kaiser Wilhelm“ geschätzt haben. Sie ist die älteste Dahliensorte (1881), die man heute noch kaufen kann. Um dieser Tatsache Respekt zu zollen (nicht dem weniger geliebten Kaiser) und um einen kleinen kulturellen Akt zu vollziehen, pflanzte ich sie in meinen Garten. Da steht sie nun und nickt ihrer Nachbarin, der „Stolzen von Berlin“, zu. Reden die etwa miteinander?

Dahlien nannte man früher auch Georginen. Die Sorte „Stolze von Berlin“ wurde 1884 von A. Schwiglewski eingeführt.

Die schönen Blüten betrachtend, fantasiere ich mir einen eleganten Salon zusammen, in dem die heute oft vermisste gute Gesprächskultur gepflegt wird. Da gäbe sich beispielsweise eine Gräfin von Schwerin die Ehre, dazu Königin Charlotte, Gattin des letzten württembergischen Monarchen und laut den Geschichtsbüchern eine freundliche Wohltäterin. Wenn es um Kultur geht, kann Prinz Heinrich gewiss mitreden, der in Rheinsberg dem Theater und der Parkgestaltung gleichermaßen frönte. Ich könnte auch den niederländischen Prinzen Claus dazubitten oder dessen Schwiegermutter Juliana sowie aus Wales den Bischof von Llandaff.

Was die sakrale Kultur angeht, kann ich neben dem Bischof einen anonymen Kirchenfürsten aufbieten, der ein Gewand in Couleur Cardinal trägt. Er unterhält sich vielleicht mit Baudirektor Linne über Themen der Architektur, während Beethoven einem potenziellen Mäzen (vielleicht heißt er Claude Shride oder Woldemar Meier) seine Eroica anpreist. Eine hübsche Vorstellung: Persönlichkeiten aus gut zwei Jahrhunderten plaudern in meinem Garten miteinander – und was für ein Panoptikum!

Nach Otto Linne (1869-1937), einem Gartenplaner und Reformer der Friedhofskultur, ist diese Sonnenbraut (Helenium) benannt. Man nannte Linne einen „Anwalt des sozialen Grüns“.

Ich gebiete meiner Fantasie Einhalt, weil ich sonst womöglich den Edelknaben mit der Spitzentänzerin verkuppele oder – einen Jubelruf ausstoßend – den Triumphator zum Orion schieße. Komme ich also zum Schluss. Die Wertschätzung kultivierter Menschen, die sich mit scheinbar unbedeutenden Dingen wie der Namensfindung für neue Staudensorten befassen, gehört zu meiner Gartenfreude, weil diese Namen dafür stehen, dass sich das Große im Kleinen spiegelt. Das regt die Fantasie an, erweitert den Horizont, pflegt die Allgemeinbildung, und es macht mich zu einem kultivierteren Menschen.

Die Fotos von Jürgen Hartmann zeigen die Dahliensorten „Kaiser Wilhelm“ und „Stolze von Berlin“ sowie die Sonnenbraut „Baudirektor Linne“. Für die Interessierten hier noch die Information, um welche Stauden es sich bei den im Beitrag erwähnten Sorten handelt: Auch die Gräfin von Schwerin ist eine Dahlie, Königin Charlotte eine Herbst-Anemone (es gibt auch ein Duftveilchen gleichen Namens). Prinz Heinrich ist eine weitere Herbst-Anemone, Prins Claus ein Krokus, Prinses Juliana eine Nelkenwurz. Der Bischof von Llandaff gab einer weiteren Dahlie den Namen, Kirchenfürst ist ein Phlox, Couleur Cardinal nennt sich eine Tulpe, Baudirektor Linne eine Sonnenbraut, Beethoven eine Margerite, Claude Shride eine Türkenbund-Lilie, Woldemar Meier ein Kleiner Geißbart, Eroica eine Bergenie. Als Edelknabe und Spitzentänzerin würden sich eine Lupine und ein Schaublatt vereinen. Jubelruf ist eine Rittersporn-Sorte, Triumphator ein Steinquendel und Orion ein Storchschnabel. Artikel über Staudenzüchter:innen finden Sie z. B. auf den Internetseiten der Staudengärtnerei Gaißmayer.


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