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Kulturbeutel (3): Helge statt Mücken

Lesezeit: 3 Minuten

Statt sich im Urlaub draußen von bösem Getier aussaugen zu lassen, geht Holger Schneider nach drinnen und sieht seinem Musiker-Komiker-Idol Helge Schneider im Fernsehen beim Blödeln zu.

Ich nehme keinen Kulturbeutel mehr mit. Nie mehr! Irgendwas fehlt ja immer. Alles mitgeschleppt, das Wichtigste vergessen. Jahrdutzende Optimierungsbestrebungen sinnlos. Der Klassiker Nummer eins: die Sache mit den Mücken. Enervierende Nothalte an jämmerlich sortierten Drogerie-Filialen. Antibrumm im Mückeneldorado? Hähähä, Spaßvogel, ausverkauft! Fenster auf, Geld rausgeschmissen: Irgendein verheißungsvolles Rettungs-Fläschchen mildert vorerst die grausig eskalierenden Gedankenprojektionsschleifen in Richtung Dämmerung. Später versagt das ätzende Teufelszeug zuverlässig: Alles stinkt und kratzt, die Mücken selbstredend juckt’s nicht. Dass das Verfallsdatum der untauglichen Ekel-Sprühtinktur keineswegs bis zum nächsten vergurkten Kulturbeutelbestückungsversuch reicht: Teil eines bescheuerten, weil niemals abruf- oder nutzbaren Erfahrungsschatzes. Muss ich weiterpalavern? Wir wollten, fällt mir ein, bei den Kesseltönen stets jedwede Mutation von Redundanz vermeiden…

Allerfeinste Helgefankost

Jemand hilft mir: Helge, epischer Namensvetter! Rein ins Haus, Fenster und Türen verrammelt! Ja siehste: Die Doku aller Dokus, aufgetakelt und groß angedockt in allen Häfen der ARD-Kommunikationsgewässer: »The Klimperclown«, ein Machwerk (danke für Volle-Breitseite-Spoiler im Vorspann!), alles komplett selbst ausgeklimpert, der Rest von Guitarrist Sandro Giampietro anvisiert und ausgeschnitzelt. Doch was da rauskommt, ist natürlich – Nullnull Schneiders Zensur sei Dank! – allerfeinste Helgefankost! Oder wie es die ARD feinfühligst anteasert: »nimmt er die Zuschauer anlässlich seines 70. Geburtstags mit auf eine Reise durch sein Leben.« Naja, er nimmt sie schon auch ganz schön auf die Schüppe. Kommt ja von dort…

Wobei wobei: Es gibt eine Menge Anrührendes, freundlichste Einladung ins Familiäre, Szenen in 8 Millimeter, sehr direkt, unverblümt. Dann grandiose frühe Slapstick-Blüten, ganz kurzes Pas-de-deux mit Schlingensief, Abstechereien im Lieblingsland Hispanien. Hin und wieder ein Bekenntnis mit Potenzial zum wegweisenden Leitfaden: »Die Kleidung ist für mich sehr wichtig. Sie muss praktisch drastisch sein«. Oder eine kleine fiese Bebop-Eskapade mit Tummy Percussion auf die unmissverständliche Aufforderung »Sing mit, du Sau!«

Plumpsen ins Wohlfühl-Gejazze

Zuvor noch, nach einem kurzen entzückenden Glenn-Gould-plays-Bach-Liebeserklärungs-Clowngeklimper, Klavierhocker runter und rauf, et voilà: Seine Freunde-Band, ein Plumpsen ins Wohlfühl-Gejazze, die Zeit ausgehebelt, die Grenzen zwischen allen denkbaren Abgrenzungen verflüchtigt, ein Jazz-Plasma, das dich umhüllt und mehr Jazz ist als der geilste Jazz, den man sich vorstellen kann. Ein Lassdichgehen des Geklimpers und des Miteinanders, schöner und heimeliger geht’s nun nicht mehr für den Helgefan und alle, die es noch nicht sind und irgendwann jedenfalls sowieso werden müssen wollen.

Nun muss die Eloge folgen, auf den Mückenstichheiler, diesen im Ruhrpott mit einem Schuss Grock frisch aufgebrühten Karl Valentin, der sich nie im Drehrumbumm um sich selbst verloren oder verkauft hat. Der nie Zeit verlor, uns in allen Registern am unsinnigsten Sinn des Daseins teilhaben zu lassen. »Helge hat Zeit«: seinerzeit eine der schönsten Inseln im Naturschutzgebiet des ÖRR-Pazifik. Mein Lieblingszitat, so jedenfalls im Kopf behalten: »Wir müssen nicht reden. Wir haben Zeit.« Zeit haben für jede Gelegenheit, für das Unvollkommene, für Sinnloses, für Vertanes, für sich selbst. Für falsche Töne, die zum Leben gehören wie zur Musik.

Langen Palaverns kurzer Sinn: Helge ersetzt den Kulturbeutel. In jeder Hinsicht. Jedenfalls das Mückenspray… Ich korrigiere: Helge ist Kulturbeutel.

Fotos: Helge Schneiders Equipment auf der Bühne im Beethovensaal der Liederhalle, Holger Schneider – Porträt Helge Schneider, Meine Supermaus GmbH


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