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Demokratie heute (2): Der Blick in die Geschichte hilft

Lesezeit: 4 Minuten

„Was ist eine wehrhafte Demokratie?” Um diese Frage drehte sich das 40. Stuttgarter Symposion im Rathaus und suchte in der Geschichte nach Antworten. Unsere Autorin Angela Reinhardt war dabei.

In Ländern wie Ungarn, Georgien oder den USA kann man derzeit live zuschauen, wie gewählte Regierungen das System gegen sich selbst wenden und „die schlechteste Staatsform – mit Ausnahme aller anderen“ (Winston Churchill) vielleicht sogar abschaffen. Sechs Vorträge lieferten beim 40. Stuttgarter Symposion im gut besuchten Großen Sitzungssaal des Rathauses historisch fundierte Antworten auf die Besorgnis, auch bei uns könnte das System irgendwann kippen.

Es ging um Parteiverbote, den Schutz des Parlaments und staatlicher Repräsentant:innen, die Rolle der Beamtenschaft oder der Presse, es ging auch um die spezifische Rolle des Südwestens, der sich manchmal anders, meist liberaler verhielt als die Bonner Republik. Das Symposion, eine Kooperation von Stadtarchiv, Haus der Geschichte und dem Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof, gibt es bereits seit 40 Jahren.

Bedrohungen, denen Parlamente ausgesetzt sind

Am 6. Januar 2021 stürmte ein Mob das Kapitol in Washington. Tobias Kaiser von der Universität Jena zeigte die diversen Bedrohungen, denen Parlamente ausgesetzt sind: Dauerreden, Prügeleien von Abgeordneten, die Militärputschisten 1981 in Spanien. Um rohe Gewalt zu verhindert, wird der Bundestag durch eine eigene Polizeitruppe geschützt, die weder Stadt noch Staat, sondern nur der Bundestagspräsident:in, im konkreten Fall also Julia Klöckner untersteht.

Allein diese Polizist:innen dürfen im Bundestag Waffen tragen, ihnen obliegt auch die Sicherheitsprüfung von Mitarbeitenden und Besucher:innen. Dass 1932 die Zerstörung des Parlamentarismus vor allem von innen erfolgte, als nämlich Hermann Göring als Reichstagspräsident die Gewalt über das Parlament erlangte, mag die konsequente Weigerung der heutigen Abgeordneten erklären, einen Bundestagsvizepräsidenten der AfD zu wählen.

Kaiser erzählte vom Entstehen der Bannmeilen um die Parlamente und von Protesten auf den Besuchertribünen, etwa durch Beate Klarsfeld 1968. Nach dem Nazi-Reich strebte das Parlament der neuen Bundesrepublik eine hohe Transparenz an, die Bürger:in soll alles beobachten können, was auch zu einer hohen Bedrohung führt; nicht nur von rechten und linken Extremist:innen, heute auch durch religiöse Fundamentalist:innen.

Demonstrationen sind wichtig für die Meinungsbildung, man lässt sie in Berlin so nahe wie möglich an den Bundestag heran. Bei der Frage nach einem Militärputsch in Deutschland zuckten die Mundwinkel des Redners: Das stehe nun wirklich kaum zu befürchten. 

Gewalt als legitimes Mittel der Auseinandersetzung

„Heftige Sprache muss nicht immer zu Gewalt führen“: Von der erstaunlich friedlichen Auseinandersetzung mit der politischen Gegner:in in der Wilhelminischen Ära erzählte der Historiker Sebastian Rojek, er untersucht derzeit am Stadtarchiv die wehrhafte Demokratie in Stuttgart.

Erst in der Weimarer Republik gab es auch in Stuttgart Straßenkämpfe, die Kommunist:innen wie die Nationalsozialist:innen sahen in Gewalt ein legitimes Mittel der Auseinandersetzung, denn politische Ideen, für die sich nicht zu sterben lohnt, waren für sie keine. Nach dem Krieg dann herrschte politische Apathie, die Bürger:innen hatte „die Schnauze voll“ von Politik und prügelten sich erstmal nicht mehr.  

Warum blieben die deutschen Parteiverbote der 1950er Jahre bis heute die Ausnahme? Die Sozialistische Reichspartei SRP, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, und die KPD sind bis heute die einzigen Parteien, die vom Bundesverfassungsgericht verboten wurden. Im Kaiserreich waren unter anderem die Sozialdemokrat:innen verboten, das hatte Parteiverbote generell in Verruf gebracht, auch weil es die verbotenen Parteien umso stärker gemacht hatte.

Der Staat hat sich heute wertneutral zu verhalten, und seine Gegner:innen sind sich dieser Schwäche bewusst; Moritz Fischer von der Rheinisch-Westfälischen Hochschule Aachen nannte es einen „halbherzigen Republikschutz“. Er erläuterte die exakten Kriterien eines Parteiverbots, die unterschiedlichen Rollen von Verfassungsschutzamt und Bundesverfassungsgericht sowie das Platzen des Verbotsverfahrens gegen die NPD 2003.

Fischer rügte das BVG, das von einer trügerischen Hyperstabilität der Republik ausgehe; seiner Ansicht nach folge der Aufstieg der AfD daraus, dass es kein Verbot der NPD gab. Die AfD aber wurde nicht als rechtsextreme Partei gegründet, sondern entwickelte sich erst dazu, das und ihre extreme Popularität erschwere nun die Umsetzung eines Verbots.  

Die Rolle der Presse

Nach Vorträgen über den Personenschutz während des Linksterrorismus der RAF und die Treue (oder Untreue) der Beamtenschaft zum Staat ging es schließlich um die wichtige Rolle der Presse. Die Erfahrungen aus der Nazi-Zeit verhinderten zunächst jegliche Einschränkung der Pressefreiheit – „Eine Zensur findet nicht statt“, steht deshalb im Grundgesetz. In einem reich illustrierten Vortrag schilderte Stefanie Palm vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin die Lage der Medien unter Adenauer und das große Misstrauen der damaligen Politiker:innen gegen die „vierte Gewalt“.

Ein kurzer historischer Abriss führte vom erstaunlich fortschrittlichen „Reichspreßgesetz“ des Kaiserreiches über die teils verständlichen Presse-Einschränkungen der Weimarer Republik bis zu den frühen Bundespolitiker:innen, die Magazine wie den Spiegel als Schundblätter beschrieben. Sie verbanden zu viele negative Presseschlagzeilen über sich selbst gleich mit dem Chaos der Weimarer Republik und leiteten eine Sorge um die noch junge Bundesrepublik daraus ab.

Baden Württemberg schuf bereits 1949 ein sehr liberales Pressegesetz, das den Versuch eines strengeren Pressegesetzes auf Bundesebene früh unterlief; letzteres existiert bis heute nicht. Die Stoßrichtung von Donald Trump zur Einschränkung der amerikanischen Presse blieb nicht unerwähnt.

Die Publikumsfragen, für die nach jedem Vortrag Gelegenheit war, gingen oft von den historischen Fakten zur aktuellen politischen Lage, manchmal wurde es gar ideologisch. Die bewundernswert faktengebundenen Historiker:innen hielten sich vor allzu deutlichen politischen Wertungen zurück. Die Warnungen aus unserer Geschichte aber klingeln nach diesem Symposion deutlich in den Ohren.

Foto des Reichstags: Enrico Elzi / Pixabay


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