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Lukas Grimm träumt in der Gaisburger Kirche

Lesezeit: 2 Minuten

„I Dream of Peace“ war das Motto des Antrittskonzerts von Lukas Grimm als neuem künstlerischem Leiter des Württembergischen Kammerchors. Ute Harbusch war vor Ort.

Unerträglich laute Schüsse und Gewehrsalven. Alle, die im Raum sind, zucken zusammen. Hilfe, klingt so Krieg? Nein, glücklicherweise hatte sich nur die Tonanlage selbständig gemacht. Geplant war dieser Einstieg nicht, aber die brutale klangliche Imitation von Kampf und Gewalt hat akute Kriegsgefahr rücksichtslos in die Ohren gehämmert und damit dem Konzertmotto eine drastische Aktualität verliehen, die zurzeit, da unser Land um die Wiedereinführung der Wehrpflicht ringt, ohnehin mit Händen zu greifen ist.

Der vierzigjährige Dirigent, Kirchenmusiker, Orgelimprovisator und Komponist Lukas Grimm ging programmatisch und musikalisch gleich in die Vollen. Er mache „kein Programm, das keine Aussage hat“, sagte er im einführenden Gespräch, sondern wolle „den Chor in der Kulturgesellschaft positionieren“.

Ein neues Konzertformat

Dazu gehört offenbar das Ausweiten des traditionellen Konzertformats. Nicht nur gab es ein Künstlergespräch vorab und ein zwangloses Meet and Greet mit Sekt und Knabbereien im Anschluss, die Schauspielerin Astrid M. Fünderich hat zudem zwischen jedem Chorstück thematisch verbindende Texte vorgetragen. Der Bogen reichte hier von Erasmus von Rotterdam bis zu Azim Shabal Nawabi aus Kabul, von Kurt Tucholsky bis Hilde Domin.

Auch die musikalische Bandbreite des durchweg a cappella Dargebotenen war groß, geradezu riesig. Von Heinrich Schütz bis Karin Rehnqvist (geboren 1957) umspannte das Programm vierhundert Jahre Musikgeschichte, weltliche wie geistliche, geläufige wie seltene und durchweg hoch anspruchsvolle Werke.

Der ausgezeichnet präparierte Chor meisterte die unterschiedlichsten Stile, die schmissig vertrackten Zwölftonreihen von Hanns Eislers „Gegen den Krieg“ ebenso wie die schmerzhaft-schönen Reibungen und Schwebungen von Arnold Schönbergs eben noch tonalem „Friede auf Erden“. Die 27 Sängerinnen und Sänger des semiprofessionellen Ensembles summten, flüsterten und riefen in Thomas Jennefelts eindringlichem „Warning to the Rich“ von 1977, ließen sich in Psalmvertonungen von Mendelssohn auch solistisch hören und vom Dirigenten bis zuletzt immer wieder zu gewaltigen Fortissimo-Ausbrüchen animieren.

Es war ein Parforce-Ritt, engagiert dargeboten und zu Recht mit stehenden Ovationen honoriert. Vielleicht aber wäre etwas weniger mehr gewesen. Die einzelnen Teile fügten sich zu einem Kaleidoskop, doch nicht zu einem Bild, geschweige denn zu einer Vision. Immerhin: Das Konzert hat bewiesen, dass sich gute Kunst und eine politische Botschaft nicht ausschließen. Man darf auf jeden Fall gespannt sein, welchen Weg der Württembergische Kammerchor und sein neuer Leiter zukünftig gehen werden.

www.wuerttembergischer-kammerchor.de

Fotos: Gerald Ulmann


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