Foto: Holger Schneider
Nicht ganz freiwillig überlässt sich Holger Schneider im Kurpark Bad Cannstatt (Bild) einer sehr speziellen Hörerfahrung.
Verdammt pünktlich kommt er, musterschülerhaft zuverlässig. Jedes Jahr um dieselbe Zeit. Auch jetzt kommt er, schert sich den Kehricht um lächerlich winzige Kleinstlebewesen, die im Größenwahn mikroskopischer Weltherrschaft perverse Pirouetten des Irrsinns vollführen. Er kommt zum Ersten, zum Tage der Arbeit, des Kämpfens und Feierns. Er kommt wirklich jeden Wonnemonat: der Mai-Ohrwurm. So sicher wie das Morgen in der Krise. Ein erwiesenermaßen unangenehmer Gesell.
Woher er kommt? Das scheint gänzlich unklar. Wahrscheinlich aber nährt sich sein Recht auf unverlangte zyklische Wiederkehr aus der unvergleichlich herzerfrischend-anarchischen Liedzeile „… die Bäume schlagen aus“. Ein Handeln, welches uns zwar bei „Herr der Ringe“ oder Tim Burton im Film, nie jedoch in der diesseitigen Natur begegnet. Das Bild ist grobschlächtig und fies, zugleich lustig und rührend harmlos, denn richtig kraftvoll, weit oder gefährlich unvermittelt schlagen sie ja doch nie aus, die Bäume, also bitte, eher ganz im Gegenteil.
„Der Mai ist gekommen“, Justus Wilhelm Lyras Geniestreich auf Geibels feuchtfröhliches Gereime bohrt uns der Wurm mit Silcher-Spirale im betulichen Kurbad nahe Stuttgart zuerst ins Ohr: Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zuhaus! Finden sich doch daheim plötzlich alle wieder, die längst vergessenen und zuverlässig versammlungsbereiten und willfährigen und unvermutet reanimierten und längstliebgewordenen Mai-Ohrwürmer:
Lassos Allheilwurmmittel „Wohl kommt der Mai“, der Schunkelwurm „Komm, lieber Mai und mache“, die „Herzlich tut mich erfreuen“-Zwillingswürmer, getanzt bei Praetorius und fröhlich staunend bei Stuttgarts Hofmusikus Lechner, natürlich: „Im wunderschönen Monat Mai“, nochmal Lasso lauter: „Im Mayen hört man die Hanen krayen“ und dermayen mehr und mehr – – – So viele Würmer im Ohr. Derweil, draußen in der Cannstatter Wildnis, die Platanen wie wild slow motion um sich schlagen. Deren keimende Knospen und sprießende Triebe fielen bereits Anfang April dem Knispelgemetzel rabiater, erbarmungslos baumausschlagverachtender Gelbkopfamazonen-Clans zum Opfer, die überdies mit ihrem egozentrischen Weltuntergangsgekreische unser mühsam zurechtintrovertiertes Kurresidenz-Idyll geradezu genüsslich zerfetzen. Wie liebe ich sie dennoch, diese putzigen Nachbars-Viecher, blöderweise schon darum, dass sie mir so dermaßen was vormachen in Sachen rücksichtsloses Einfordern irgendwelcher Grundrechte. Wenn sie nur nicht diesen grässlichen Lärm verursachten!
Da lob ich mir, lauterer, die traditionell kurparkbesetzenden Singfiederlinge, die schwäbelnden Zaunkönige und herzzerreißend polyglott tirilierenden Rotkehlchen, denen ich lausche wie nie in den Jahren zuvor. Die mich mitjubeln lassen in der zweiten herrlichschönen Zeile des Geibel-Gedichtchens: „mein Herz ist wie ’ne Lerche und stimmet ein mit Schall“. Stimmt einfach so, für den Moment des Einsseins mit dem kostbaren Augenblick der Wahrnehmbarkeit unerreichbar fantasievoller Singvogeltonkunst. Bis mich jäh das Gekräh impertinent kolonialisierender Rabenvögel aus der Klanginhalation reißt. Eine Sirene tut das ihre, der Lautsprecher an der Haltestelle plärrt sinnentleert, das Ostinato eines dienstleistenden Dieselverbrenners vermasselt mir die gesunde Trittfrequenz beim Heimspazieren.
Was für eine verrückte Welt! Wie stark und laut der verdammte Tinnitus dieser Tage! Was für ein unnötiger Lärm allenthalben, wo doch eigentlich die Welt stille steht. Und welche Erkenntnis: wie schön kann doch ein Ohrwurm sein! Das Fenster geschlossen oder in der Baumnische des Parks: ruf ihn im Mai, er kommt, wenn er nicht schon da ist. Dein eigener. Drum, lieber Mai-Ohrwurm: bleib noch ein paar Monate bei uns. Bei mir und den anderen. Du weißt schon, warum. Am Ende haben‘s selbst die Bäume kapiert und treten mal so richtig um sich. Gezielt. Die Gelbkopfamazonen sind schlau genug und flink: sie trifft es eh nicht, zum Glück. Und, lieber getreuer Mai-Ohrwurm: Adieu sagst du bitte, wenn überhaupt, mit deiner wahrhaftig wahren letzten Zeile: „- – -wie bist du doch so schön, o du weite, weite Welt“.
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