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Von dichten Klängen und offenen Knöpfen

Lesezeit: 2 Minuten

Eine Würdigung der finnischen Komponistin Kaija Saariaho war das Konzert des SWR-Symphonieorchesters in der Stuttgarter Liederhalle mit Bas Wiegers am Dirigentenpult und der Geigerin Carolin Widmann (Bild) als Solistin. Jürgen Hartmann hat den Livestream gesehen und nur an Nebensachen etwas auszusetzen.

Wann eigentlich wurde die Kleiderordnung für Orchester verändert? Fällt es auf, wenn die Herren ohne Krawatte musizieren? Oder fällt es eben nur in einem Livestream mit zahlreichen Großaufnahmen wirklich auf? Ist es gut, wenn der Dirigent mit sogar zwei offenen Hemdknöpfen erscheint, oder kommt das Ganze dann doch ein bisschen zu entspannt daher?

Nehmen wir es hin – solange sich die ausgestellte Lässigkeit nicht auf die Hauptsache auswirkt. Und die ist und bleibt die Musik, die im Konzert des SWR Symphonieorchesters im Beethoven-Saal der Stuttgarter Liederhalle einleuchtend zusammengestellt war: Als Würdigung für die Komponistin Kaija Saariaho kombinierten der Dirigent Bas Wiegers und die Geigerin Carolin Widmann zwei Werke der 2023 verstorbenen, weltweit hochgeschätzten Finnin mit Musik von Lutosławski und Debussy (sowie einer von Widmann anrührend eingeleiteten Zugabe von Telemann), die Saariaho alle besonders geliebt hat.

Gemeinsam ist den auf hochklassigem Niveau präsentierten Werken die Erforschung ungewöhnlicher Klangwelten. Witold Lutosławski schrieb 1951 eine „Kleine Suite“ über Volkslieder aus der Region Rzeszow östlich von Krakau, deren Melodien er mit einer vielschichtigen, teils kratzbürstigen Begleitung versah und die Tiefenschichten einer nur scheinbar leichtfüßigen Folklore freilegte. Claude Debussy wiederum schuf mit seinem sinfonischen Dreiteiler „La Mer“ das Schaustück des musikalischen Impressionismus mit wogenden Klangballungen und feinsinnigen instrumentalen Verblendungen. Hier wussten Bas Wiegers und das Orchester – nach etwas trägem Beginn – die musikalischen Strukturen aufzulichten, was dem für einen allzu dichten Klang anfälligen Stück guttat.

Mit dem Titel „Verblendungen“ für ihr allererstes Orchesterwerk von 1984 machte Kaija Saariaho klar, dass sie die Elektronik und den Orchesterklang nicht als Gegensätze begreifen wollte. Tatsächlich mischte die Komponistin die Elemente zu einem extravaganten Ganzen, und die manchmal etwas wacklige Livestream-Regie konnte die Klangerzeugung durch die einzelnen Instrumente nachvollziehbar machen. In Saariahos „Graal théâtre“ wiederum, zu dem die Komponistin 1994 durch den Tod Lutosławskis angeregt wurde, dominieren klangliche Gegensätze. Elemente eines traditionellen Violinkonzerts werden vereinzelt und blank ausgestellt. Carolin Widmann, überaus versiert in der zeitgenössischen Musik, erfühlt in ihrer Interpretation dieses Wechselspiel von Mit- und Gegeneinander mit enormer Klangfülle, so sensibel wie präzise. Ob die einsame Solistin schließlich den Heiligen Gral findet oder vom theatralischen Orchesterdonner eingesogen wird, bleibt der Fantasie der Hörenden überlassen.

Der gut zweistündige Livestream wurde freundlich-verlässlich von Tabea Dupree moderiert, die extra für Carolin Widmann die weibliche Form eines leider kaum noch gehörten Worts erfand: Die Geigerin sei eine echte „Tausendsasserin“. Auch über diese Nebensache kann man – wie über offene Hemdknöpfe – durchaus ein bisschen nachdenken.   

Foto Carolin Widmann: Lennard Ruehle. Digitales Programmheft zum Download.


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