Dorine Mokha erzählt seine Geschichte. Foto: Roberto Bulgrin
Mein Akku ist eigentlich leer. Aber die Aufführung, die zu besprechen ich gebeten wurde, klingt so vielschichtig und rätselhaft, dass ich zusage. Angekündigt ist „Ein Oratorium für die kongolesischen Minen“ für einen Sänger, einen Tänzer und elf MusikerInnen, frei nach „Hercules“ von Georg Friedrich Händel. „Herkules von Lubumbashi“ heißt die Produktion vom Podium Esslingen.
Von Ute Harbusch
Zwei Tage vor der Aufführung:
Händels „Hercules“ war weder eine Oper noch ein Oratorium. „Musical drama“ nannte sein Schöpfer diese Zwittergattung, die – verkürzt gesagt – durch den Wegfall der Inszenierung Geld sparen sollte, dafür um so mehr erzählerische Kraft der Musik anvertraute. Die Handlung konzentriert sich auf das Lebensende des Helden: Die fatale Eifersucht seiner zweiten Frau Dejanira, die ihm einen furchtbaren Tod bescherte. Die berühmten zwölf Arbeiten kommen nicht vor, weder das sprichwörtliche Ausmisten des Augias-Stalls noch das Bezwingen der vielköpfigen Hydra oder der Raub der goldenen Äpfel der Hesperiden.
In ausführlichen Interviews auf der Homepage des Veranstalters erläutern die beiden Macher ihr Konzept. Der Tänzer Dorine Mokha stammt aus Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo, wo sich zwei riesige Kobaltminen befinden. Sein Land warte auf einen Herkules, der den Bewohnern die Reichtümer ihrer kostbaren Erde zurückgibt, sagt er. War Herkules denn ein Robin Hood, frage ich mich. Der Musiker Elia Rediger wurde als Kind zweier Entwicklungshelfer im Kongo geboren und lebt jetzt in der Schweiz, wo der Rohstoffriese Glencore seinen Sitz hat. Glencore gehören die beiden Kobaltminen von Lubumbashi. „Herkules muss für vieles herhalten“, sagt Rediger. Für das Stück habe er eine Arie komponiert, in der ein Glencore-Geschäftsführer eine Pressemitteilung vorträgt. Der Trailer zeigt einen Chor aus Minenarbeitern, der die Worte „Nokia, Samsung, Huwai, Tesla, BMW, General Motors, Motorola“ singt. Der Chor steht in einer dieser trostlosen, gigantischen Abraumhalden, aus denen Kobalt gewonnen wird, der Stoff für unseren westlichen Bequemlichkeitswohlstand, für unsere Handyakkus und Elektroautos. Glencore wird von Menschenrechts- und Umweltaktivisten wegen seiner Handels- und Abbaupraktiken angeprangert.
Welcher Herkules kann Aufgaben von solch globalen Dimensionen lösen? Herkules müsse sich frei tanzen, heißt es versöhnlich in der Ankündigung. Rediger verspricht „eine leichte und direkte Show, mit der der Zuschauer einfach in den Kongo reisen kann“. Ich bin skeptisch, aber gespannt.
Bleibt noch die Frage der Anreise. S-Bahn oder aus Bequemlichkeit doch der Benziner, der vor der Haustür steht? Ist das jetzt womöglich die sauberere Alternative zum Elektroauto? Kaum schlägt man der Hydra einen Kopf ab, wachsen zwei andere nach. „Oh Herkules, warum bist du nicht hier?“, singt der Chor in der Mine.
Am Tag nach der Aufführung:
Ich habe das Theater gerade noch rechtzeitig erreicht. Wegen eines Feuerwehreinsatzes auf der Strecke fiel mein Zug aus. Die MusikerInnen spielen schon während des Einlasses. Vielversprechend mischen sich klassische Streicher- und Bläserklänge mit E-Gitarre, E-Bass, Xylophon und Conga-Trommeln. Das Orchester sitzt im Halbkreis, darüber drei Leinwände, auf denen die „Troubadours von Lubumbashi“ zu sehen sein werden. Beim ersten „Auftritt“ werden sie spontan beklatscht vom Publikum – die Verbindung zwischen dem vorproduzierten Video und dem Live-Geschehen funktioniert.
Händel verzichtete in seinem „musical drama“ über Herkules auf eine Inszenierung und setzte ganz auf die Musik. Welche Möglichkeit hat Musik im dokumentarischen Theater, frage ich mich.
Sie wechselt zwischen Popsongs, traditioneller und aktueller kongolesischer Tanzmusik, barocken Händel-Einsprengeln sowie auf Swahili gesungenen Arbeiterliedern und bleibt durchweg gefällig. Wirkliche Dringlichkeit entwickelt dagegen der Text. Sehr, sehr viel Text ist zu hören und zu lesen. Mitteilung erfolgt nicht über Musik, sondern über Sprache, die stellenweise atemlos und wortwörtlich im Dauerlauf vorgetragen wird, so etwa ein Abriss der gesamten Wirtschaftsgeschichte des Kongo von den belgischen Kolonisatoren bis heute. Dorine Mokha erzählt ebenso poetisch wie pointiert seine persönliche Geschichte und die seines Landes. Sein Französisch wird deutsch übertitelt, ebenso alle Lieder und Gesänge und die als Tonspur eingespielten Interviews mit Opfern eines Minenunglücks, dazu kommen auf die Leinwand projizierte Tweets und Börsenkurse in Leuchtschrift.
Erst gegen Ende entsteht jenseits der Dokumentation Raum für Musik und Tanz ohne Worte und eine Ahnung von der wirklichkeitsverändernden Kraft von Kunst, sofern man sie als Gegenteil der Wirklichkeit begreifen will. Mit einer List, genauer: einer fingierten E-Mail, ist es Herkules gelungen, Glencore die 440 Millionen Dollar wieder abzuluchsen, die das Unternehmen – die juristische Untersuchung steht noch aus – bei der Lizenzvergabe dem kongolesischen Staat vorenthalten haben soll. Ein mitreißender Freudentanz eröffnet die Möglichkeit einer glücklichen Zukunft.
Eine Utopie? Nach Schätzung
von Experten soll sich im Zuge der Energiewende die Nachfrage nach Kobalt in
den kommenden Jahren verdreifachen.
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