Cameron Carpenter beim Osterkonzert im Konzerthaus Berlin (Foto: Dovile Sermokas)
Normalität kann man nicht verordnen oder herbeireden, sie entsteht langsam und wandelt sich ständig. Die Zukunft von Oper und Konzert ist noch längst nicht ausgemacht, glaubt Jürgen Hartmann.
Eine neue Normalität wolle er nicht, schrieb kürzlich Harald Martenstein im Zeit-Magazin: „Ich möchte mein Leben zurück, eins zu eins“, fügte er hinzu. Tatsächlich hat der Begriff der neuen Normalität, den wohl erstmals Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz im April verwendete, etwas Autoritäres, ist doch das Ausmachen jeglicher Normalität ein langwieriger und von ständigem Wandel begleiteter, gesellschaftlicher Prozess. Ein „normales“ Konzert, die „normale“ Aufführung einer Oper? In der langen Zeit vor der Pandemie verfestigte sich das, bei allem Respekt vor zahlreichen Experimenten, als Gegenüber von gut besetztem Podium und ebenso gut besetztem Zuschauerraum.
Die Restriktionen wegen COVID-19 brachten zunächst viele Seltsamkeiten aus der Welt von Oper und Konzert hervor. Im Wohnzimmer gesungene, mit der Klampfe begleitete Corona-Liedchen von Ensemblemitgliedern eines Staatstheaters, schielend in die Computerkamera gesprochene Erklärungen und, ein persönlicher Tiefpunkt, die Erläuterungen einer Dramaturgin zum Thema „Strichfassung“ – in grünem Ganzkörperanzug, in der Badewanne. Nach einigen Wochen mit zahllosen Videos dieser Art und Güte trat eine Professionalisierung ein, die das unangenehme Gefühl inhaltlicher Schwäche und allzu großer Privatheit aber kaum verdrängen konnte.
Aber was geschah der zuvor normalen, großformatigen Kunst? Orchester und Theater bemühten sich nach und nach um sie: In Konzerten ohne Publikum, in Formaten, die Studioproduktionen fürs Fernsehen ähnelten, oder gleich in der Wiedererweckung vorhandener Aufzeichnungen, die man geschwind und oft kostenlos ins Netz stellte. Der Organist Cameron Carpenter, der im Konzerthaus Berlin den leeren Saal zu einer imponierenden Performance nutzte, nannte es „ironisch“, dass ausgerechnet die COVID-19-Restriktionen dem Publikum ungeahnte, im normalen Konzertbetrieb unmögliche Einblicke erlaubten. Aber weiß man ohne jegliche Reaktion von Zuschauerinnen, was man da tut, einsam am Instrument? Ist das wirklich mehr als eine perfekt inszenierte Aufnahme, ist es wirklich ein Konzert?
„Konzertsäle erfüllen bis heute denselben Zweck wie die Kirchen: einen außeralltäglichen Raum vom alltäglichen abzugrenzen. Rituale bedürfen der Abgrenzung im Raum wie in der Zeit, die das Heilige vom Profanen scheidet“, schrieb Michael Stallknecht Mitte Mai in der Neuen Zürcher Zeitung. Das steht merkwürdig quer zu einem Zeitgeist, der digitale Präsentationen zum Ideal umfassender Teilhabe stilisiert und nicht begreifen mag, dass man sich vor Computer, Tablet oder Smartphone, womöglich in Jogginghosen und befangen im Alltag drumherum, nicht auf etwas fokussieren kann, das sich um seiner Existenz willen von eben diesem Alltag abheben muss.
„Theater ist ja vor allem ein Ort für persönliche Begegnung und Austausch, und das kann man längerfristig nur schwer digital ersetzen“, sagt Christian Firmbach, der Intendant des Oldenburgischen Staatstheaters. „Wir leben ja eigentlich von der Nähe“, erklärt Ilona Schmiel, die Chefin der Zürcher Tonhalle. Gleichenorts will das Opernhaus bald Orchester und Chor aus externen Räumlichkeiten live in die Aufführung einspielen, um allfällige Abstandsgebote befolgen zu können. Dies ist wahrscheinlich die bestmögliche Annäherung an die schiere Größe der allermeisten Musiktheaterwerke, die sich der Verkleinerung zur Kammeroper verweigern. Was könnte man ansonsten in einer schönen neuen Musik- und Theaterwelt entdecken? Große Werke nur noch in digitaler Konserve? Klein besetzte Stücke auf allzu großer Bühne, vor einem gähnend leeren Saal? Oder experimentelle Formate, die die Zuhörerin scheinbar inkludieren (natürlich auf Abstand)?
Es ist nicht Einfallslosigkeit oder Macht der Gewohnheit, wenn auch Kulturmacherinnen ihr Leben zurückhaben wollen. Die Stuttgarter Konzertveranstalterin Michaela Russ sagt: „Mit einem Fünftel der kalkulierten Sitzplatzkapazität kann kein Konzert wirtschaftlich sinnvoll durchgeführt werden“. Zur geschäftlichen Sorge trage auch bei, so Russ, dass „das Vertrauen des Publikums teilweise wieder zurückgewonnen werden“ müsse.
Hier deutet die erfahrene Musikmanagerin ein schwerwiegendes Problem an, das noch kaum thematisiert worden ist: Kommt das Publikum zurück? Wird es akzeptieren, dass Experimente zur Normalität erklärt werden? Wird es sich vor Ansteckung fürchten? Wird einer Musikfreundin nach monatelanger Kurzarbeit oder gar Jobverlust der Konzert- oder Theaterbesuch schlichtweg zu teuer? Oder wird der drohende Verlust der „emotionalen Qualität des Erlebnisses“ (Russ), also der zwangsweise leere Saal und die Aufforderung, zwischenmenschliche Kontakte auch dort möglichst zu vermeiden, ein Grund zur Abwendung vom bisher gewohnten Musikbetrieb sein? Man kann sich noch so sehr und allzu eilig eine neue Normalität herbeireden wollen: Zum Konzert- oder Theaterbesuch verpflichten lässt sich ein Publikum nicht.
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