Unser Autor Holger Schneider flieht im Urlaub aus dem heimischen Bad Cannstatt in ein anderes Kurbad und verrät uns, warum das sein muss.
Gottlob darf Schneider sich derzeit allerbester Gesundheit erfreuen. Warum dann sucht er im Sommer den Kurort? Wovon will er sich erholen? Wohnt er denn nicht schon in einem Kurbad? Sind ihm ein Dutzend Heilquellen nicht genug? Was braucht er mehr als einen entzückenden Kurpark, einen Biergarten mit Gerstensaft bayerischer Provenienz nebst Kurmuschel und königlichen Platanen, von denen ihm als exotische Kaprize des Örtchens eine Bande extrem putziger Gelbkopfamazonen ihre Lebenslust ohrenbetäubend misstönend ins Ohr krakeelt? Wonach sucht er noch??? Derlei Fragen lassen Schneider kalt. Wohl wissend, dass 500 Liter pro Sekunde fraglos eine Hausnummer im europäischen Mineralwasseraufkommen darstellen (bekanntlich die Nummer zwei nach Budapest) und dass ihm allein die geschmackliche Vielfalt der Sauerwasser (Favorit: Auquelle) andernorts derart übersprudelnd nie begegnen wird, tritt er die sommerliche Flucht aus seinem geliebten Bad Cannstatt aus gutem Grund an:
Tag für Tag orgelt das Kesseltreiben herüber aus der Möchtegernmetropole, Tag für Tag diktiert das irrsinnige Brüllen übergeschnappter Baulöwen den gnadenlosen Rhythmus der Stadt, die Luft im Kessel ein toxisches Hitzestau-Staub-Gasgemisch (erinnernd an Lenaus bös treffende Kloakental-Worte von 1844, sie sei „nichts als die Ausdünstung des Teufels […] als wäre sie durch meilenlange Windungen von Eingeweiden hindurchgegangen, ehe man sie in Nase und Lunge bekommt“), keine Bahn fährt mehr so wie sie soll, wutbürgerliche Autohupenvirtuosen veranstalten Freiluftkonzerte, die Menschen im Moloch sind nicht mehr willens oder in der Lage, sich gegenseitig ins Gesicht zu schauen (probiert es aus!), kurzum: das erträgt Schneider keinesfalls das ganze Jahr über. Zumal alles rüberschwappt über die träge braune Neckarbrühe ins Kurbad und hier – wo ohnehin schon so viel grandios gescheiterte Architektur zu bewundern ist – die Bauwut erneut finsterste neoschildbürgerliche Konstrukte in grottenhässlich Steinernes meißelt.
Was macht einen richtigen Kurort aus? Auf der Suche nach Antworten landet Schneider in Bad Elster im vogtländischen Teil des grenzverwurschtelten Dreiländereckchens Böhmen-Bayern-Sachsen. Und siehe da: es gibt sie noch, die gute, alte, süße, kleine, betuliche, gemütliche Kuratmosphäre, es gibt sie noch, ausverkaufte Kurkonzerte im König Albert Theater, im Königlichen Kurhaus, in diversen Kurmuscheln, alles königlich, alles kurlich hier, versteht sich. Rote Teppiche auf den Treppen. Im Badecafé (dessen charmante böhmische Kellnergrandezza allein einen Aufenthalt wert ist) jeden Samstagabend Tanz. Die Damen hübsch auftoupiert, die Herren in überwiegend fragwürdiger Ausdeutung angemessener Kurbekleidung, Hündchen an Leinchen, das Flüsschen Weiße Elster heuer leider nur Rinnsälchen, im Bärenlohbach wird frei nach Kneipp getreten, die Sächsischen Staatsbäder werben mit dem kernigen Lockruf „In der Sole schwebt die Kraft!“, auch Naturmoor und Radon helfen heilen, heile, heile Segen… Schneider wandert durch zauberhafte Wälder und macht auch ein wenig in Kultur: Zu Christian Brückner wird er ins NaturTheater wallfahrten und seinen Aufenthalt mit Tänzen aus aller Welt beschließen, dargeboten vom Konzertmeisterquartett der Chursächsischen Philharmonie; vorgestern war er bereits im Konzert mit dem Moritzburg Festival Orchester, aber darüber schreibt er heute besser nichts. Er ist ja schließlich im Urlaub. Im Kurbad.
Foto: Schneiders Hündchen auf kulturgeschichtlicher Spurensuche im Kurpark Bad Elster
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