Muss es an Silvester eigentlich immer die Neunte sein? Das fragen wir uns zum Jahreswechsel – aus dreierlei Perspektive. Den Auftakt macht Susanne Benda, und sie startet mit einer radikalen Aufforderung.
Sprengt die Sinfonie in die Luft! In der klassischen Musik ist die Revolution ausgebrochen, und wer sonst könnte dabei die Finger im Spiel haben als Ludwig van Beethoven? Der hatte seine neunte Sinfonie zwar zunächst als rein instrumentales Werk geplant, ließ sich dann aber von Schillers Gedicht „An die Freude“ zur ersten Sinfoniekantate der Musikgeschichte inspirieren. Ein Schlusssatz mit Chor und Solisten, ein Finale, das über den reinen Klang hinausdrängt und das etwas sagen, ja gar fordern will: Das sprengte alle Gewohnheiten und Erwartungen. Es war eine Revolte – und die komponierte Utopie eines schon taub gewordenen Komponisten.
Diese Utopie manifestiert sich allein schon darin, dass die exponierten „Freude!“-Rufe Solisten und Chor an ihre Grenzen (und oft weit darüber hinaus) treiben. „Alle Menschen werden Brüder“: So imaginiert es Schiller, und so tut es, obschon in den 1820er Jahren eigentlich ja schon restaurative Zeiten angebrochen sind, auch Beethoven. „Seid umschlungen, Millionen!“: Die weltumarmende humanistische Botschaft schafft gute Gründe für Beethovens seinerzeit unerhörte Zersetzung von Form, Harmonik, Melodie und Rhythmen.
Paradox: Um Schillers Freiheitspostulat Klang werden zu lassen, hat Beethoven das Finale seiner letzten Sinfonie mit so vielen Interpretationsangaben (also: Freiheitsbeschränkungen für Interpreten) gespickt wie noch nie ein Stück zuvor. Noch paradoxer ist aber der Wandel des Stücks in der Gegenwart. Was seinerzeit von der zeitgenössischen Kritik als „Verwirrung“ abgekanzelt wurde, gehört heute im Konzertsaal zum gutbürgerlichen Ritual des Jahreswechsels. Aus der Revolution wird Dekoration. „Diesen Kuss der ganzen Welt“ – und dann, im Foyer: Prost Neujahr, Stößchen!
Dabei ist diese Musik so viel mehr als nur ein Ritual mit Ohrwurm-Qualität. Ihr völkerverbindendes Ethos ruft in Zeiten der Kriege zu friedlichem Miteinander auf. Hinter dem (oft viel zu laut und undurchsichtig geschmetterten) Jubel, auch hinter dem Tschingderassabum des einkomponierten türkischen Marsches steht eine Botschaft. „Alle Menschen werden Brüder“ (und, mag man hinzufügen: natürlich auch Schwestern). Das ist eine Aufforderung zum Tun. Oder, mit dem berühmten Schlusssatz von Rilkes Gedicht „Archäischer Torso Apollos“: „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“
Abb.: Beethoven-Triptychon, Teil 1, von Holger Schneider
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