Zum ersten Mal in der 56-jährigen Geschichte der King’s Singers sitzt ein König auf dem britischen Thron. Holger Schneider ließ sich überzeugen, dass „die Königlichen“ ihren Namen wirklich noch verdienen.
Als ich da erstmal drinsaß, unnatürlich eingezwängt im erbarmungslosen Klappmechanismus des altehrwürdigen Gestühls im Mozart-Saal der Liederhalle, ahnte ich nicht, wie schwer es mir fallen sollte, aus der Nummer wieder rauszukommen. Ich befand mich im Sonderkonzert von Russ Klassik, und keine geringeren als The King’s Singers waren angekündigt: Da hüpfte das Herze vorab, und die Klappsessel der ganzen Reihe hüpften mit …
Mucksmäuschenstille: bunt gemischtes, viel seinerseits singendes Volk, ausverkauft der aus Paneelen von Eiche und Esche kunstvoll gefaltete Saal. („Papierschwalbe von innen“, meinte Helge Schneider mal mit grandios geschärftem Blick.) Im Gepäck und auf ihren Tablets hatten die sechs königlichen Kehlen ein königliches Programm aus königlichen Werken auf königliche Krönungs- und Gedächtnisfeierlichkeiten des königlichsten aller Empires mitgebracht.
So wurden eingangs unter dem liebevollen Spitznamen „Oriana“ (etwa: „die Goldene“ oder „aufgehende Sonne“) für Elizabeth I. Werke unter anderem von William Byrd mit Auftragswerken des Zyklus „A modern Oriana“ kombiniert, was zugleich (und auch in den folgenden Abschnitten) eine gewisse Beliebigkeit der Themen wie auch in der musikalischen Zusammenfügung mit sich brachte. Die King’s bemühten sich deutsch-redlich, die Bezüge den Zuhörenden in knapper Form nahezubringen: gewohnt nett, doch selten mit echtgoldenen Krönchen auf den Texten.
Mit „Long Live the King“ war der Abend übertitelt, und er begann in den ersten Klängen mit jener unnachahmlichen, verzaubernden Liebe zu jedem Ton und jedem einzelnen Wort, mit der Liebe im Gefühlsmagnetismus der englischen Tonmeister (very dolce: Michael Cavendish: „Come, gentle swains“) und der Liebe zu Kontrasten (gleich zu Beginn: Byrds von Querständen durchtränkter Ernst, sekundiert vom madrigalesken Humor in Michael Easts „Hence stars, too dim of light“). Ein königlicher Beginn, und es sollte viel Königliches folgen.
Warum aber zog mich das nicht über die zwei Stunden komplett in den Bann (vom Pausen-Intermezzo mal ganz abgesehen, in der mir die groteske Maritim-Gastronomie zum zigsten Male meinen heimlichen Traum von einer kleinen schwäbischen Butterbrezel mit stoischem Nichtbedauern zerplatzen ließ)? Ich kam nicht gleich drauf. Wie so oft kam der Ausweg ganz prosaisch: eine Nacht drüber schlafen. Dann hörte ich nochmal nach, und so fand ich sie:
Die Königlichen – gute Gründe, warum sie es sind und bleiben werden:
• Weil man diese Liebe spürbar zu hören bekam: nicht nur die erwähnte „im Kleinen“, sondern auch diejenige für die Menschen unter der Last der Kronen, letzthin zu „ihren“ Königinnen und Königen (O-Ton: „unsere geliebte Königin Elizabeth II.“).
• Weil sie selbst es gehört haben müssen, wie der Intonationssegen nicht immer ganz gerade hing: Seien wir versichert, dass es sich um saisonal marodierende Bazillen handelte …
• Weil es immer wieder wundervoll „einrastete“, das Königliche ihres harmonischen Miteinanders in jeder erdenklichen Hinsicht.
• Weil aus Variationen der Besetzung äußerst aparte Momente entstanden (Redfords „Rejoyce in the Lord alway“ etwa, ohne sängerische „Außenposten“).
• Weil innerhalb des Ensembles (zu selten) kleine Inseln entstanden, womit der Blick auf das eine Ganze plötzlich einen neuen packenden Fokus bekam (Julian & Christopher in „Recuerda me“).
• Weil sich plötzlich über diese individuellen Momente weite Tore öffneten: eine vom ersten Bariton mit herzbebender Sogwirkung initialisierte Null-auf-hundert-Beschleunigung aus Dynamik, Stimmkunst, Leidenschaft, nein: Innerstem nach-außen-Kehren (Kyrie von Paul Mealor).
• Weil sie keine große Sache draus machten: fröhlicher Basso reale, lieber Jonathan: alles Gute für Deine neuen Wege nach dem wohl letzten Stuttgarter Konzert in diesem Ensemble!
• Weil sie sich irgendwann ihre ebenfalls in die Jahre gekommene Nummer, jenes „Ach-ja-da-war-ja-noch-was“ mit dem fragwürdigen Vollständigkeits-Anspruch „Wir sind überall“ (O-Ton, sodann folgen die ganzen Kanäle wie Facegram, Instabook, Youtok, Tiktoube: Threads fehlt …), sicher nochmal durch den Kopf gehen lassen werden. Auf der Bühne – das ist doch der unerreichbar wichtigste Fokus des Seins, nein?
• Weil sie mich am Ende (von der Bühne aus!) ja doch rumgekriegt haben: Sei einfach da und lass es Dir bitte so gut gehen wie möglich, im Sitze eingeklemmter Mensch! Lass dich mitreißen! Staune, wie galant die Gentlemen deine Umgebung vollends zu bezaubern vermögen: Damengruppen springen auf, am Ende der ganze Saal, rhythmisches Klatschen und von Herzen ehrlicher, freudvoller Jubel!
Spätestens da war alles wieder „in Butter – Mutter“ (zu hören in der ersten Zugabe von zweien: „Eins, zwei, drei und vier …“ der Comedian Harmonists). Was mir, dem Gestühl mühsam entfaltet, die Eselsbrücke zum festen Vorsatz fürs nächste Mal eingab: Freu dich Zeit deines Daseins auf The King’s Singers! Nimm zum Konzert im Mozart-Saal sicherheitshalber ne riesige selbstgebackene Brezel mit ordentlich Butter drauf mit! An die Sache mit den gefräßigen Sesseln gewöhnst du dich.
Foto: Frances Marshall
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