Er wolle keine normalen Programme dirigieren, hat der neue Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters, François-Xavier Roth, angekündigt. In seinem Antrittskonzert spürte er dem Begriff der Sinfonie nach. Normalität stellte sich tatsächlich nicht ein, findet Jürgen Hartmann.
Wie spricht man beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und nicht nur dort, ein Thema an, über das man eigentlich nur noch ungern reden möchte? Man windet sich verlegen wie der Interviewer im SWR-Video („wir wollen ein bisschen zurückblicken, es gibt ne Vorgeschichte dabei, die sollte man nicht verschweigen“). Man wirft eine Nebelkerze wie die Programmdirektorin bei der Begrüßung des neuen Chefdirigenten („ich habe auch ein bisschen Verantwortung für dieses Orchester (…) wir gehen diesen Weg auf der Grundlage unserer Werte“). Oder man bedankt sich, wie François-Xavier Roth selbst, artig beim SWR und dem Symphonieorchester – was einzig authentisch wirkte.
Verhaltener Applaus, aber Bravorufe
Ab hier gilt’s der Kunst (zugegeben sei, dass dieser gern zitierte Satz an seiner originalen Stelle – in Wagners „Meistersingern“ – taktisch und verlogen gebraucht wird). Wird die Kunst durch besagte Vorgeschichte beschädigt? Am Ende des im Livestream übertragenen Antrittskonzerts von Roth als Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters muss man aufschreiben: Ja, vielleicht. Vielleicht sogar wahrscheinlich. Vielleicht aber weniger im Miteinander von Dirigent und Orchester, das an diesem Abend im Stuttgarter Beethovensaal zwar nicht mit überschäumender Begeisterung, aber ganz bestimmt nicht widerwillig musizierte. Es war eher das Publikum, das trotz einzelner Bravo-Rufe stets verhalten applaudierte und bis zum Schluss nicht auftaute. (Was man auch nicht verschweigen sollte: Das Konzert war nicht gut besucht.)
Mit „Les élémens, symphonie nouvelle“ von dem 1666 geborenen Komponisten Jean-Féry Rebel erkundeten Roth und das klein besetzte, teils im Stehen spielende Orchester die Ursprünge des Begriffs der Sinfonie. Das tönte allzu gravitätisch, fröhlich garniert mit Vogelgezwitscher und einem flott getrommelten Tamburin in der Hand des Dirigenten. Wahrscheinlich lag es an der technischen Übertragung im Livestream, dass der Klang der Streicher und der vielbeschäftigten Flötistinnen Tatjana Ruhland und Anne Romeis auseinanderklaffte; jedenfalls zeigte das Orchester, dass die historisch informierte Spielweise, teils mit alten Instrumenten, längst in seiner DNA verwurzelt ist.
Auch neue Musik kann unterhaltsam sein
Mit Komplimenten wie glanzvoll, ergreifend oder gar unterhaltsam wird die zeitgenössische Musik selten charakterisiert. Wobei, zeitgenössisch: Luciano Berio komponierte seine bescheiden betitelte, aufwendig besetzte „Sinfonia“ 1968, und sie zählt schon zu den Monumenten der Musikgeschichte in einer Reihe mit Bach, Beethoven, Brahms. Und das wurde durchweg glanzvoll gespielt, der Martin Luther King gewidmete Satz „O King“ war überaus ergreifend. Das Allerbeste, der „In ruhig fließender Bewegung“ zu nehmende dritte Satz, war rundum unterhaltsam. Aus ein bisschen von allem mixte Berio hier – unter intensiver Zuhilfenahme eines Mahler-Satzes – ein geradezu absurdes musikalisches Theater. Dennoch hört es sich so an, als sei alles genauso gemeint gewesen, als hätten Bach, Berlioz, Brahms, Boulez und die vielen anderen Zitierten ihre jeweiligen Noten nur für diesen Zweck geschrieben. Mitglieder des SWR-Vokalensembles assistierten dem Orchester mit Vokalisen, Geräuschen und allerdings selten verständlichen Texten – eine fabelhafte Angelegenheit.
Er wolle niemals normale Programme dirigieren, sagt François-Xavier Roth im SWR-Interview.

Im vorproduzierten Pausengespräch mit François-Xavier Roth war der online verfügbare Abschnitt zur „Vorgeschichte“ herausgeschnitten. Als Kehraus widmeten Dirigent und Orchester ihre Aufführung von Franz Schuberts „großer“ C-Dur-Sinfonie dem früheren Chefdirigenten des RSO Stuttgart, Sir Roger Norrington. Und ähnlich wie dieser präsentierte man das immer wieder erstaunliche Werk auch: Ohne Vibrato, eher geradlinig, tendenziell nüchtern. Mit starken dynamischen Kontrasten, ruppigen Tempowechseln und unter Zurückdrängung alles Tänzerischen fühlte sich Schubert unter Roths Leitung modern an, blitzblank, aber auch ziemlich eisig. Keine Normalität. Romantik auf die harte Tour: Man horcht oft überrascht auf, aber nicht selten schreckt man auch zurück.
Fotos: SWR/wpsteinheisser
Weitere Infos und das SWR-Interview sind hier zu finden.
Schreiben Sie einen Kommentar