Warum Hildegard Behrens daran schuld ist, dass Jürgen Hartmann für einen Augenblick den ganzen Beethoven zu verstehen glaubte.
Als ich mir mit ungefähr 17 vom Taschengeld eine „Fidelio“-Gesamtaufnahme kaufte, mit Hildegard Behrens, Peter Hofmann und Georg Solti, wusste ich von Beethoven im Grunde nicht viel mehr als „Europahymne“ und „taub“. Doch diese Langspielplatte bescherte mir einen Augenblick, den ich noch sehr genau erinnere. Wenn Leonore alias Fidelio im tiefsten Kerker dabei helfen soll, das Grab für ihren Ehemann zu schaufeln, dem sie inkognito auf der Spur ist, gibt es jenen Moment, gibt es für mich den Beethoven-Moment überhaupt. Sie weiß noch nicht, ob die jämmerliche Gestalt in der Zellenecke wirklich ihr Mann ist, und da singt sie: „Wer du auch seist, ich will dich retten“.
Heute würde ich das nüchtern bewerten: Fidelio besingt den für mich imperativen Grundsatz, dass jeder Mensch absolut gleichbehandelt werden muss. Aber damals war ich überwältigt von diesem Akt der Individualität im Sinne von helfender Gemeinschaft. „Wer du auch seist, ich will dich retten“. Ich habe das seitdem immer wieder zitiert, nicht als vermessene Willenserklärung, sondern als Mahnung, denn diese paar Worte aus einem oft geschmähten Opernlibretto machen mich meiner Mängel und Fehler immer aufs Neue bewusst, und sie spornen mich dazu an, nach dem besseren Menschen in mir zu suchen.
Nun wäre dieser Satz wohl auch als solcher schon stark. Ob wohl jemand herausgefunden hat, welcher der drei Librettisten Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke ihn geprägt hat? Mich würde gar nicht wundern, wenn das vom Komponisten selbst kam. Denn was für eine Musik hat er für diese Worte geschrieben; eine Kantilene, die den vor sich hin brummelnden Gefängniswärter Rocco verstummen und das Orchester wundersam sich von der trüben Gefängnislampe zur strahlenden Sonne der Freiheit wandeln lässt.
Hören Sie sich’s an. Aber hören Sie sich Hildegard Behrens in der Aufnahme unter Georg Solti an. Wer sucht, der findet, und es fände sich dann nach knapp eineinhalb Stunden. Durch diese Sängerin glaubte ich für einen Augenblick den ganzen Beethoven zu verstehen. Aber danach fing die zwiefache, lebenslange Sehnsucht an: Diese Worte einmal auf der Bühne, genauso, von tiefem Verständnis durchdrungen, zu hören. Und Beethoven wirklich zu verstehen.
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