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Lieber streitbar als glanzpoliert: Fazil Says Beethoven

Grafik: Holger Schneider

Susanne Benda hat Fazil Says Gesamtaufnahme von Beethovens Klaviersonaten kennen und lieben gelernt.

Dieser Pianist fragt nicht. Er spielt. Wenn andere noch Kontext und Struktur der Musik analysieren, um hinterher ihre Finger bewusster auf die Tasten legen zu können, ist Fazil Say längst schon auf und davon. Fast naiv nähert sich der türkische Musiker dem zerklüfteten Gebirgsmassiv von Beethovens 32 Klaviersonaten. Und immer wieder macht er deutlich, was ihn, den gerade 50-Jährigen, mit dem 200 Jahre Älteren verbindet: Beide sind komponierende Pianisten, Individualisten, Nonkonformisten und Liebhaber der Improvisation. So arbeitet, nein, so tobt und so träumt sich Fazil Say durch Beethovens Sonaten. So unbedingt und unvermittelt, dass er sich manchmal schier selbst zu überraschen scheint.

Im Booklet zur CD räumt Say freimütig ein, dass er mehr als die Hälfte der Sonaten für seine Gesamteinspielung in kurzer Zeit neu einstudieren musste. Klar, dass einige Musikkritiker diese Aussage gegen ihn verwandten. Der Pianist liefert ihnen zusätzlich Argumentationshilfe, denn ihm gelingt bei weitem nicht alles. Manche Tempi sind überreizt, nicht mit jedem rasend schnellen Tempo kommen seine Finger mit, etwa im Eingangssatz der „Appassionata“. Und manche sehr individuelle Gestaltung der Geschwindigkeiten, manche Stauung und Beschleunigung ist, wie etwa in den langsamen Sätzen der ersten Sonate oder der „Pathétique“, hart an der Grenze zum Überkünstelten. Der Pedalgebrauch ist streitbar. Auch findet Say nicht zu jedem Werk einen Zugang. Die „Les Adieux“-Sonate hat weder Idee noch Kontur, sie bleibt diffus. Und dem Trauermarsch der As-Dur-Sonate op. 26 fehlt die Tiefenstruktur.

Und dennoch. Selbst dort, wo er streitbar ist, ja womöglich gar falsch liegt, ist dieser Pianist noch spannender als viele seiner technisch perfekteren, sauberer präparierten Kollegen. Fazil Say ist ein Ereignismusiker: In seinen besten Momenten vermitteln seine Darbietungen immer den Eindruck des Spontanen, als würden die Werke im Akt des Spiels gerade erst erfunden. Die Art, mit der er der Musik, wie etwas im Eingangssatz der „Pathétique“, Haken ins musikalische Fleisch schlägt: faszinierend! Und der erste Satz der viel zu viel gespielten „Mondschein-Sonate“: vollkommen kitschfrei, reine Poesie. Auch bei den Variationen der „Pastoral-Sonate“: alles klangfarblich fein abgetönt und in wundervoller Balance. Die „Sturm“-Sonate heißt hier zu Recht so, im Eingangssatz wirbelt es Schnelles und Langsames wild durcheinander. Wobei Fazil Say, auch dies eine hohe Qualität, deshalb noch lange nicht berechenbar ist. Wäre er das, hätte er das Allegro con brio der „Waldstein“-Sonate nicht so zurückhaltend angelegt. Da will sich keiner auf Kosten der Musik profilieren.

Say schätzen, heißt, das aufregend Streitbare dem musikalisch Korrekten und Glanzpolierten vorzuziehen. Heißt, Ecken und Kanten zu lieben und das Brummen des Pianisten beim Spiel billigend in Kauf zu nehmen. Wer Interpretationen hören will, die beweisen, dass alte Musik heute mehr sein kann als nur schön konserviertes Kulturgut, dass sie uns heute noch etwas angeht: Der wird bei dieser Gesamtaufnahme ein bisschen Entschädigung bekommen für die große Party zu Beethovens 250., die das Coronavirus so nachhaltig kaputt gemacht hat.

Beethoven: Sämtliche Klaviersonaten. Fazil Say. Warner Classics. 9 CDs


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