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Das wunderwirkende Cannstatter Kulturmenü

Lesezeit: 5 Minuten

Ein Menü mit 30 Gängen will erst mal bewältigt sein. Unser beim Cannstatter Kulturmenü flanierender Korrespondent Holger Schneider hat nicht alles, aber vieles gekostet – danach fiel er ermattet aufs Sofa und war vollauf zufrieden. Hier ist seine Reportage.

Mein Cannstatter Kulturmenü beginnt mit Wanda, viel zu früh und völlig außerhalb des offiziellen Programms. Es geht um die Wurst. Wanda, unsere entzückende Vierbeinerin, ist ein Mix aus Wildschwein, Reh, Waschbär und Känguru. Im späteren Verlauf wird sie dafür sorgen, dass ich, das angeschmiegte Wesen neben mir auf dem Sofa, ebenfalls in Schlummer falle und mehrere der Darbietungen verpasse.

Dabei wollte ich doch das ganze Menü: über 30 Gänge an einem Tag! Klar kann das nicht gehen, den Parcours schaff‘ ich schon deshalb nicht, weil die Menü-Köchinnen respektive -Köche vermittels kompliziertester Algebra dafür gesorgt haben, dass es keinem Zweibeiner je gelingen wird, alles mitzunehmen – obschon es verlockend einfach scheint…

Mein erster Gang: zu Wandas Bällchenwiese, dem penibelsten Rasengetrimm, der je vor einem Kursaal (hier: dem großen in Bad Cannstatt) angelegt und gehegt wurde und werden wird. Immerhin wachen ja zwei wundervolle Magnolien-Prinzessinnen (heuer längst verblüht) über die standesgemäße Bettung ihrer Grazien – die Attitüde wird folgerichtig goutiert vom sechsbeinigen Gespann, zumal das Bällchen munter rollt…

Bürgerinitiative damals und heute

Zwei Stunden später bin ich solo hier (Grazie Wanda daheim standesgemäß auf dem Sofa gebettet) und lausche den Ausführungen von Olaf Schulze (Pro Alt-Cannstatt e. V.) zur Geschichte des Reiterdenkmals für König Wilhelm I. von Württemberg: Alles sehr spannend und jubiläumsbepackt. Das 1875 enthüllte Denkmal zwischen den Magnolien ist – wie das Cannstatter Kulturmenü – ein in vielerlei Hinsicht farbenfrohes Zeugnis hiesiger Bürgerinitiative (beim König macht’s freilich der Grünspan).

Nach einer Stippvisite in der „Wunderkammer – Naturalia | Artificialia“ (eine Geschichte für sich!) begebe ich mich zur „Auftaktveranstaltung“ genannten Auftaktveranstaltung, wo sich die Cannstatter Prominenz versammelt hat, um sich – völlig zu Recht – für ihr bürgerschaftliches Vorzeigeprojekt gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Es ist voll hinterm Klösterle, dem ältesten vollständig erhaltenen Profanbau auf dem Gebiet der Stadt Stuttgart. Chansonnière Sandra Hartmann und Oliver Prechtl am Piano machen die angesichts des Traumwetters geweiteten Herzen noch weiter.

Nächste Stippvisite (Atelier Erwin Holl im ehemaligen Firmensitz von Ritter Sport) und nächste Station: Wortkünstler Timo Brunke beginnt seine Jakobsgeschichte am Jakobsbrunnen mit einer kühnen These zur göttlichen Erschaffung des Süßwassers. Gerade noch rechtzeitig gelingt ihm der Sprung auf Noahs Arche. Brunke redet sich um Kain und Abel, die Jakobsgeschichte muss schließlich neu erfunden werden, fürs Hier und Heute und Kulturmenü-Leute: Und die sind glücklich, lachen und glucksen, das altehrwürdige göttliche Wasser seinerseits…

Percussion, Chanson und Multimedia

Zufriedenheitsgrummelnd über die nächste Stippvisite (Galerie Wiedmann mit Werken von Ben Hönsch und Jan Démoulin) zum chinesischen Tanz des Ensembles der Damen des Kulturvereins Seidenstraße. Mitten im traumversonnenen Spiel der Federfächer versagt die Tontechnik, die farbtrunken gekleideten Tänzerinnen aber singen das Lied einfach weiter…

Weiter geht’s in die kleine Christuskirche, wo Nozomi Hiwatashi, ein Feuerwerk aus Charme, Witz und Frechheit, dem Publikum ihre Percussion um die Ohren haut, zum proppevollen „Kunstraum 5“, den das Chanson-Trio „Les Braves Cons“ in einen Pariser Hinterhof verwandelt, ins Kult-Café Gottlieb, aus dessen geöffnetem „magischen Fenster“ (Sängerin Nuria Noba) das Duo Yaelu (mit Gitarristin Natalia Rose) aus wundervollen Eigenkompositionen eine ganz eigene Atmosphäre zu zaubern vermag, die den Straßenlärm völlig vergessen lässt.

Kontrastprogramm und Kehraus

Währenddessen läuft im Atelier Ü12 das krasse Gegenprogramm, mit Multimediakünstlerin Lili Weiss, deren vokale Energie grandiose Feedbacks in den Raum schleudert, nicht minder krafttrunken sekundiert von E-Drummer Andreas Dobrynin.

Am Abend dann noch zwei Highlights: Auf der hinterhofkonzerterprobten Stromraum-Freilichtbühne gibt es Patrick Süskinds „Kontrabass“ in einer derart gelungenen Adaption ins Heute, dass ich mittendrin der festen Überzeugung bin, Darsteller und Regisseur Sascha Tuxhorn unterbreche mal eben die Darbietung, um das Publikum nun wirklich ins Vertrauen zu ziehen: grandiose One-Man-Show, perfekte Imagination, Lachen, dass nicht selten tief im Halse steckenbleibt.  Percussionistin Nozomi Hiwatashi macht den Kehraus, gemeinsam mit Schlagzeuger Grzegorz Chwalinski bringt sie die Mauern des Kirchleins zum Beben, mit einer grandiosen Performance aus zeitgenössischen Kompositionen und Bearbeitungen zwischen „Yin“ und „Yo“. Martin Grubinger darf sich schon mal warm anziehen…

Wunderwirkende Selbstverständlichkeit

Als ich mich pappsatt und zufrieden nach Hause schleppe, schlummert dort die kleine Hundedame bereits selig auf dem Sofa und träumt von Bällchenwiesen oder etwas ganz anderem. Ich lasse meinen Tag nochmal Revue passieren, während ich die Bilder durchsehe. Das dreizehnte Cannstatter Kulturmenü war das, und alle waren stolz und glücklich und freuen sich auf 2027.

Warum aber so lange warten: Es fühlt sich einfach so herzhaft normal an. Als wolle es immer so sein. Oder jeden Samstag. Kultur – ob als Vielgängemenü oder à la carte – kann ihr lebensnotwendiges Aroma ja erst entfalten, wenn sie im täglichen Miteinander zur Selbstverständlichkeit wird: Die Cannstatter Menü-Idee zeigt als leuchtendes Beispiel, dass es geht und welch unglaubliche Wunderwirkung daraus entstehen kann.

Alle Fotos von Holger Schneider
Infos: www.cannstatter-kulturmenue.de


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