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Demokratie heute (1): „Schule des Überlebens“ in der Rampe

Lesezeit: 3 Minuten

Unsere Redakteurin Petra Heinze soll im Theater Rampe lernen, wie sie mit dem Rechtsruck in Deutschland umgehen kann: Die russische Regisseurin Ada Mukhína und der englische Musiker Calum Perrin bieten dort eine „Schule des Überlebens“ an und belegen ihre Expertise mit jahrelangem Überleben in Diktaturen.

Beim Eintritt in den Theatersaal erwartet uns lauter Punk-Rock, pure Revolte. Ich suche mir einen Platz im hintersten Eck, da ein Aufsteller an der Theaterkasse gewarnt hatte, dass man zum Mitmachen aufgefordert werde. Unsere beiden Lehrenden sind auch Musiker:innen mit Gesang, Gitarre und Keyboard. Plötzlich brechen sie ihr Spiel ab. Kehraus. Party zu Ende. Calum Perrin fegt Lametta von der Bühne.

Nun befinden wir uns in einer Zeit nach der AfD-Machtergreifung. Statt glitzernder Bühnenkluft tragen die beiden Performer:innen nun Pfadfinderuniformen, und die „Lectures“ beginnen. Das sind keine Vorträge, sondern Lektionen. Die erste: Ängstlichkeit zu akzeptieren. Zunächst werden per Video so eine Art verbesserte Rorschach-Tests eingespielt, um den Grad der Ängstlichkeit im Publikum zu messen: Unseren Antworten nach, was das Dargestellte sei, sind wir alle noch relativ entspannt. Dann erfahren wir, dass unsere Versuche, uns zu beruhigen, müßig sind, denn wir haben durchaus Grund zur Angst.

Tipps für Zeiten der Zensur

In einer weiteren Lektion gibt uns Ada Mukhína Tipps für Zeiten der Zensur: Beispielsweise werden in Russland an Reklamewände völlig harmlosen Inhalts QR-Codes geklebt, die auf subversive Websites verweisen. Auch wie man digitale Gesichtserkennung mittels Make-up austricksen kann, erfahren wir.

Beim „würdevollen Scheitern“ wird aus dem Mitmachspiel Ernst: Mukhína fragt uns, wann unser größtes Scheitern stattfand und ob es privat oder beruflich war. Kollektives Schlucken und Nachdenken setzt ein. Dann demonstriert die Performerin mehr und weniger würdevolle Arten des Strauchelns und Fallens auf eine Gymnastikmatte und muss erkennen, dass dies nicht besonders hilfreich für uns ist. So ist sie an dieser Lektion ebenfalls würdevoll gescheitert…

Nun übernimmt Calum Perrin, erzählt von einem einjährigen Streik der Bergmänner während der Thatcher-Ära in seiner Heimatstadt in Nordostengland und singt dazu den Protestsong „The Blackleg Miner“. Wir müssen uns solidarisieren, dann werden wir mächtig, schließen wir daraus messerscharf.

Kunst kann Kapitalismus nicht besiegen

Schließlich erklärt uns Mukhína, dass wir einer Lowest-Budget-Produktion beiwohnen, bei der jeder mehrere Jobs zum Honorar von einem gemacht hat.  Zumindest hätten sie sich geschworen, dass sie aufhören, bevor sie ausbrennen und dieser Punkt sei nun erreicht.

Dann geht es trotzdem weiter, die Kunst kann also den Kapitalismus nicht besiegen. Nun werden wir gefragt, was wir angesichts des Weltuntergangs am besten könnten. Die einen können kochen, die anderen spülen, wieder andere zuhören. Mukhína regt Kooperationen an. Dann kommt noch ein Wiegenlied zum Weltuntergang, gesungen mitten unter uns. Und Schluss.

Gelernt habe ich etwas, und sehr gut unterhalten fühle ich mich ebenfalls. Ich frage mich nur, ob wir als Rampe-Publikum uns nicht alle viel zu einig sind. Und jeden Tag eine gute Tat… Ob das nicht bisschen zu lieb ist?

https://theaterrampe.de
Alle Fotos: Jochen Detscher


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