Von Werner Koben
In der Neuen Musik ist es wie im richtigen Leben – man bekommt selten eine zweite Chance. Zumindest nicht, wenn man Hörer ist. Viele neue Stücke verschwinden vom Konzertprogramm genauso schnell wie sie aufgetaucht sind. Der Durchsatz ist hoch im Betrieb. Und selbst wenn ein Ensemble ein Stück anderswo noch mal spielt – wer reist ihm für ein zweites Hören hinterher? Mit Glück wird bisweilen ein Stück später im Radio gesendet oder taucht noch viel später erneut im Programm auf, wenn sich niemand mehr an die erste Aufführung erinnert. Der Wille, stets mit Neuem zu überraschen, ist unbestritten.
Das einmalige Hören eines neuen Stückes ist daher der Normalfall. Allerdings nicht für Musiker, Dramaturgen und Veranstalter, denn die haben sich vor der Aufführung eingehender damit beschäftigt – sollte man jedenfalls annehmen. Die neue Partitur wurde geprobt, analysiert, diskutiert und kommentiert. Man hatte dafür vielleicht nicht viel, aber ausreichend Zeit.
Die Hörer haben diese Zeit nicht. Sie müssen das Stück in Echtzeit hören. Sie können nicht unterbrechen und wiederholen, wenn ihnen eine Stelle unklar ist oder sie über einen Zusammenhang nachdenken wollen. Der Zug fährt unerbittlich weiter. Und eine zweite Chance – siehe oben – gibt es selten.
Unter diesen Bedingungen hätte selbst Adornos Expertenhörer schlechte Karten. Der soll nicht nur rückblickend, sondern auch vorausschauend hören. Was kommen wird, weiß er aber frühestens beim zweiten Hören. Und wenn das Wochen oder Monate zurückliegt, hat auch er das meiste leider schon wieder vergessen. Die wenigsten können ein Stück nach einmaligem Hören auswendig.
Bisweilen versuchen kluge Köpfe, den Hörenden in Einführungen oder Programmheft-Texten über diese Widrigkeiten hinweg zu helfen und vorab zu erklären, was wichtig ist und was weniger und worauf sie bitte achten sollen. Wer gerne selber hört und urteilt, muss sich hingegen sputen.
Man stelle sich vor, Musiker müssten unter solchen Umständen Stücke aufführen. Unsinn? Keineswegs. Man nennt das „vom Blatt spielen“. Spielen der Partitur auf den ersten Blick und in Echtzeit. Für Korrepetitoren ist das Alltag. Von einem verständnisvollen Musizieren kann eher nicht die Rede sein. Es geht hauptsächlich darum, die Noten so schnell wie möglich zu erkennen, in die Finger zu bekommen und wegzulassen, was man üben müsste. Üben aber würde heißen, es noch mal zu spielen, ein drittes, ein viertes Mal…
Weil das Publikum mit seiner Kammersinfonie nichts anzufangen wusste, leitete Arnold Schönberg 1918 zehn öffentliche Proben. Die Hörer konnten dabei so ausgiebig üben, dass sich ein Konzert am Ende erübrigte. Danach war man wohl der Meinung, das Problem ein für alle Mal gelöst zu haben. Auch heute lässt man uns Musik, die nicht minder anspruchsvoll ist als die Kammersinfonie, oft nur in Echtzeit hören.
Man kann sich als Hörer behelfen. Es gibt Stop- und Repeat-Tasten. Es gibt aber von vielen neuen Stücken keine Aufnahmen.
Deshalb spiel’s noch einmal, Sam! Nur für mich – als Hörer.
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