Das Mandelring Quartett (Foto: Uwe Ahrens)
Im ersten Teil unseres Interviews sagte Jochen Sandig, er wolle jeweils aus der Partitur heraus ein räumliches oder szenisches Konzept entwickeln. Um ein Beispiel dafür und um die Nachhaltigkeit traditioneller Formate geht es im folgenden Gespräch mit Jürgen Hartmann.
Ist das „Human Requiem“, über dessen Erstaufführung in Berlin noch heute gesprochen wird, repräsentativ für Ihre Ziele und Ihr Streben nach neuen Konzertformaten?
Ja, auf jeden Fall, aber so etwas ist auch schwer wiederholbar. Das „Human Requiem“ ist ein seltener Glücksfall und der Rundfunkchor Berlin vollbringt hier ein großes Wunder. Das Konzept der Inszenierung folgt auch hier ganz dem Inhalt des Texts und der Musik; Johannes Brahms hat sein Werk selbst als ein „Menschliches Requiem“ verstanden. Mir ging es darum, eine große Nähe im Raum herzustellen und alle Distanzen abzubauen, schließlich geht es um Leben und Tod, um Freude und Schmerz. Das Publikum ist umgeben von Stimmen und bewegt sich selbst dabei.
„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“. Mit diesem Satz beginnt der Abend und es macht einen großen Unterschied, wenn ein Sänger oder eine Sängerin einem dabei direkt in die Augen schaut. Wenn wir Augen und Ohren öffnen, schwindet auch die Distanz zwischen den Zuhörenden. Das geht direkt ins Herz. Wir sind alle umgeben von einer unsichtbaren Mauer. Es ist ein utopischer Moment, wenn sich aus Einzelnen eine Gemeinschaft bildet. So ein Erlebnis in der Liederhalle Stuttgart zu schaffen, ist mir sehr wichtig, denn hier habe ich selbst als Kind meine ersten klassischen Konzerterfahrungen gesammelt.
Die Ludwigsburger Schlossfestspiele wollen sich in Zukunft an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen orientieren. Wie wird man Ihre Arbeit an diesen Nachhaltigkeitszielen in den Veranstaltungen erkennen? Wie können ein Streichquartettabend oder das traditionelle Open Air nachhaltig sein?
Dafür wird es Gesprächsangebote in so genannten Resonanzräumen nach den Konzerten und Oper- und Tanzaufführungen geben. Es interessiert uns, was die Menschen selbst erlebt haben und diese Erfahrungen möchten wir sammeln. Dabei spielen auch die Nachhaltigkeitsziele eine Rolle, sie sind sozusagen unser Kompass zur Orientierung und kritischer Selbstbefragung oder auch stetiger Evaluierung, der Überprüfung unseres Wertekanons.
Aber konkret: Es macht einen Unterschied, ob wir einen einmaligen konventionellen Streichquartettabend anbieten oder zu einer intensiven Zeitreise einladen. Das Mandelring Quartett wird z.B. an drei Abenden in fünf Konzerten alle 15 Streichquartette von Dimitri Schostakowitsch als kompletten Zyklus aufführen. Das sind vier Jahrzehnte europäische Geschichte, die vor unserem geistigen Auge vorbeiziehen. Ein sehr eindrückliches Erlebnis, das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Das traditionelle Klassik Open Air mit dem Festspielorchester wird erstmalig von einer weiblichen Dirigentin am Taktstock geleitet: der großartigen Alondra de la Parra. Frauen in derartigen Führungspositionen sind noch immer keine Selbstverständigkeit, daher ist Gender Equaltiy eines der wichtigsten nachhaltigen Entwicklungsziele.
Am Sonntagnachmittag nach dem Open Air planen wir ein weiteres Familienkonzert, weil wir die junge Generation für klassische Musik, die Instrumente und deren Spieler begeistern möchten. Der Weg führt über die Nähe, daher wählen wir ein anderes räumliches Set-Up. Wir freuen uns sehr auf zahlreiche solcher Begegnungen zwischen Publikum und Künstlern. Bildung ist ein weiteres wichtiges Ziel und die Ur-Quelle jeder progressiven Entwicklung. Wir wollen mit allen mit all unseren Projekten Spuren hinterlassen – auch das verstehen wir unter Nachhaltigkeit.
Glauben Sie, dass neue Formate und die Einbeziehung politischer Aspekte wie der Umsetzung der UN-Ziele bei jungen Zielgruppen eine Rolle spielen?
Ich habe selber zwei Kinder und erkenne einen großen Wandel in der Gesellschaft – gerade in der jungen Generation, die aufsteht und uns alle zur Verantwortung ruft. Das macht mir auch Hoffnung. „Fridays for Future“ ist erst der Anfang. Wir sollten jeden Tag in den Dienst der Zukunft stellen und daher entwickeln wir Programmreihen wie „Zukunftsmusik“ oder „Music for Future“.
Es ist wichtig, den jungen Menschen zuzuhören und ihre Ängste aber auch Visionen ernst zu nehmen. Dabei verfolgen wir bewusst einen spielerischen Ansatz und eröffnen Räume, in die sich Viele auch partizipativ einbringen können. Die Lust auf das Mitmachen ist ein wichtiger Schlüssel, um den Wandel aktiv zu gestalten. Es geht vor allem um Bottom Up Strategien, mit Top Down werden wir nicht weiterkommen.
Die Internationalen Festspiele Baden-Württemberg finden vom 7. Mai bis 28. Juni 2020 an verschiedenen Orten des Landes statt. Eröffnet werden sie mit »Dido And Aeneas«, der ersten Choreographischen Oper von Sasha Waltz. Informationen unter www.schlossfestspiele.de.
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