Foto: Holger Schneider
Mit Leichtigkeit absolvierte unser Autor Holger Schneider die lange Nacht des neugegründeten Spoken Arts Festivals der Akademie für gesprochenes Wort und war sichtlich begeistert.
Erste Ausgabe eines neuen Festivals, dem Sprechen und der Sprache gewidmet, mit einem Programm tief in die Goldenen Zwanziger hineingetunkt: Da darf’s bitteschön auch gleich die ganze Nacht sein. Ich stürze mich hinein in den Kessel in Halle T1 im Theaterhaus: Das Moka Efti Orchestra – berühmt geworden als „Babylon Berlin“ Big Band– lässt mich zweifeln, ob ich hier je wieder raus will: volle Audio-Batterie, fetzige Lichtshow ohne Verwirr-Schnickschnack, es geht sofort mit voller Wucht von Null auf Hundert, der Saal brodelt, an der Seitentreppe wiegt eine Staff-Parade kollektiv verzückt die Hüften, vor mir rastet wer in rhythmische Sportgymnastik aus und ich rutsche zwei Sitze weiter. Vom guten Dutzend auf der Bühne haben drei Individuen lustige Hüte auf, allesamt sind sie herausragende Musiker. Da geht es von der vollen Combo auch in schönste Begabungen: irre gut ausgetüftelte Kompositionen, Sängerin Severija (ganz dicht am Mikro, wohlgesonnen, uns die sprachliche Komponente der Darbietung nahezubringen, die aber im fetten Sound nicht hervortreten kann) mit sensationeller Abgrundtiefe, um sogleich ihre nicht minder begeisternde Höhe zu präsentieren; süß-authentisch: ein Charleston mit dem wunderhübschen Titel „Chip Chip Chap“; finster-babylonisch der „Fatalist Tango“ – Kurt Weill auf die Effektspitze getrieben; dazwischen ein gnadenlos grandioser, inniger Blues zwischen gezupfter Gitarren-Geige und sprachbegabter Trompete, untermalt von subtilen Klaviertastentupfern des dominanten Hutträgers Nikko Weideman… Das ist alles enorm magnetisch.
Die Nadel aber dreht sich… So entwinde ich mich widerstrebend dem Sog des Moka Efti und begebe mich zum nächsten Magnetpol: Adrienne Haan lässt gemeinsam mit dem Pianisten Benjamin Schaefer ihr Programm „Zwischen Feuer und Eis“ auf die Schwaben los. Der intimere Saal T3 wird zum „Weimar Berlin Kabarett“ und ist längst elektrisiert, als ich mich reinstehle. Faszinierend, wie die Haan zur Einführung in die Atmosphäre eine Art „Diseusen-Accompagnato“ auflegt: Jedes Wort sitzt und trifft, zumal auch diese Ansprachen durchkomponiert sind. Da ist eine Liebhaberin der Sprache unterwegs, die mal nebenher die Wunderwelt des Melodrams aufleuchten lässt. Doch nicht allein Liebhaberin: So spreche sie zwar leider „nur“ vier Sprachen fließend, bekundet sie später beim Festivaltalk mit Stefan Siller im Glashaus, singe aber immerhin ihre Lieder in derzeit zwölf Sprachen, zu denen stets neue hinzukämen. Sprachweltenbummlerin? Das würde vielleicht die große Ernsthaftigkeit nicht hinreichend einfangen, mit der sie ihre Programme kreiert und auf den Brettern der Welt darbietet. Gebannt lausche ich den Liedern von Hollaender und Spoliansky (später folgen Weill und Eisler) und dieser hinreißenden Stimme mit ihrem hypnotisierenden Vibrato.
Auch im „Salon der Künste: Zauber Tanz Text“ im rappelvollen kleinen Saal T4 geht es um Hypnose. Toz Tom, Gedankenleser und -spieler, zeigt auf einen jungen Mann im Publikum: „Du! Aufstehen und nicht mehr bewegen!“ Niemand im Raum wagt eine unbeherrschte Geste, um nicht selbst ins Visier des Magiers zu geraten. Denn ein solcher ist er wohl, wie er da aufdeckt, was uns durch den Kopf geht, wie er Zahlen und Würfel und Dinge vorhersagt (wenngleich auch mitunter erst hinterher), wie er mit einer einzigen Münze das ganze Auditorium in Atem hält und auf den Leim gehen lässt. Seit jeher verblüfft das Spiel mit dem menschlichen Gedanken, verzaubert uns die Magie: fast haargenau hundert Jahre ist es her, dass etwa Thomas Mann sich mühte, dem Geheimnis magischer Phänomene während okkulter Sitzungen auf die Schliche zu kommen.
Nahtlos wird das Gedankenspiel mit der Welt der Literatur verwoben, der von Angelika Luz konzipierte Salon erweckt Texte vom „Zauberlehrling“ bis Ingeborg Bachmann in der fantastischen Sprech- und Darstellkunst des dreiköpfigen Ensembles der Akademie für gesprochenes Wort zu neuem Leben und lässt in dieser Nacht einmal mehr die Zeit stille stehen. Zu Else Lasker-Schülers „Mein blaues Klavier“ tanzt, nein entäußert sich Petra Stransky mit einer Performance, die mindestens das Jahrhundert in sich trägt, das seit der ersten Blüte des Ausdruckstanzes vergangen ist. Das tut weh, weil es – wie die Worte – ins Innere trifft: Gern wäre ich auch hier bis zum Ende geblieben, doch es warten noch drei Stationen:
Lia Şahin, eine Explosion, ein Sturm auf der Bühne, der die paar Hanseln im großen Saal T1 wegpustet (manche halten es vielleicht wirklich nicht aus) und mich zum inneren Freudentaumel bringt. Unbeschreiblich, was diese One Women Band hier anstellt, die sich selbst sieht als „die übliche beatboxende rothaarige deutsche Transgender-Frau mit türkischem Migrationshintergrund, die es bevorzugt, ein bunter Fleck im HipHop genannt zu werden.“ Längst nicht alles ist geeignet, es auch nur irgendwie gut zu finden, sie wettert und zetert über dieses und jenen, sie heult nah an der kakophonischen Schmerzgrenze jenseits der Ordnung der Töne, sie peitscht die Membranen der gesampelten Bässe bis zum Erzittern des Glashauses nebenan, aber ich bleibe im Taumel: Als sie dann nur mit dem Mikro allein ist und schon mit den ersten Geräuschen und Klängen aus ihrem Körper klar ist, dass diese Künstlerin locker jeden selbsternannten Beatboxer in den Sack steckt, und als sich das alles im irrsinnigsten Affenzahn weiter und weiter steigert, fühle ich mich wirklich wie in den echten Zwanzigern und kippe aus den Latschen. Ein älterer weißer Cis-Mann macht das nicht so oft…
Uff, was für ein Kontrast: Andächtige Stille im Mief des nun wirklich überfüllten T3 mit den „Stuttgart Comedian Harmonists“ Auf der Bühne die süße hiesige Neuauflage des legendären Ensembles, fast so niedlich wie Loriots Knubbelnasenmännchen. Sie machen das prima, das Publikum ist hingerissen, sie singen artig und fein und frech und korrekt (nein: nicht mal beim kleinen grünen Kaktus verlieren sie ihre Scheu vor harten Konsonanten!), sie haben eine wirklich famose Ausstrahlung und bewegen sich wunschgemäß in choreographischer Eintracht, sie singen unverstärkt… Und doch: das sind keine Zwanziger, das ist eine alles in allem harmlose homöopathische Reminiszenz, bei der es letztlich nur darum zu gehen scheint, die gute alte Truppe wiederaufleben zu lassen, um die Achjaaaa-Aha-Effekte, derer man sich beim Gros der Anwesenden sicher sein darf, zu bedienen. Und das haut mir irgendwie nicht hin, jedenfalls nicht in diesem Moment.
Dann nochmal Women Power mit Malonda und ihrer DJ nebst Tänzerin: Die „Elektrik Diva“ stellt, wie sie nicht ohne eine gewisse Aufregung verrät, in einer Art Pre-Release ihr Debüt-Album vor: „Mein Herz ein dunkler Kontinent“. Sehr mutig ist sie in diesem Solo-Set, sie singt mit brennender Stimme, voller Liebe und Leidenschaft, hin- und hergerissen zwischen Professionalität und Herzblut. Auch das wäre somit eine „echte“ Bühne der Zwanziger, doch dafür war der leider nur noch dünn besuchte Saal T1 dann einfach ein wenig zu groß…
Am Ende verging die lange Nacht viel zu schnell und kam ja von vornherein nicht mal mit der Dimension einer ausgewachsenen Wagner-Oper daher. Drum wünschen wir ihr für das nächste Mal mehr Stunden sowie dem ganzen Festival, dass es mit derart fabelhaftem Start über die geplante Jahrestriade hinausstrahlen möge. Ein Festival der Sprech- und Sprachkünste – allein das ist ein sehr guter Gedanke, und er fügt sich so anschmiegsam an diese Stadt und ihr Theaterhaus wie die Veranstalterin, die „kleine“ Akademie für gesprochenes Wort an eine wirklich großartige Initiative.
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