Die Online-Kulturzeitung für Stuttgart und Umgebung


Barak Marshall: Barker (Foto: Theaterhaus/Jeanette Bak)

Getanzte Angst, getanzter Weltfriede beim Colours Festival im Theaterhaus

Lesezeit: 5 Minuten

Beim Colours International Dance Festival im Theaterhaus war abermals Tanz aus aller Welt zu Gast – und unsere Autorin Angela Reinhardt auch.

Damals bei der Erstausgabe 2015 klang der Name „Colours“ ein bisschen harmlos inmitten der europäischen Tanzfestivals: Buntsein als Programm, flatternde Bänder am Eingang? Vielleicht haben die hochintellektuellen Dramaturgen bei Tanz im August in Berlin oder bei ImpulsTanz in Wien ein bisschen gelächelt.

Gespannte Erwartung vorm Theaterhaus beim Colours Dance Festival (Fotos: Theaterhaus/Jeanette Bak)

Zwei Jahre später kopierte man in Wien bereits Eric Gauthiers Mitmach-Programme auf dem Stuttgarter Schlossplatz, wo drei Tage lang alle, die vorbeikommen, umsonst und draußen tanzen lernen können, von Hip-Hop bis Tango. Heute steht das buntmelierte große C auf den Plakaten für ein ebenso mitreißendes wie hochkarätiges Tanzfestival, dessen zweiwöchiger Gastspielmarathon im Gegensatz zu anderen Events seiner Art an einem einzigen, zentralen Ort stattfindet, in den fünf Sälen des Stuttgarter Theaterhauses.

… Publikumsfestival statt Nischenveranstaltung

Um die Nahbarkeit von modernem Tanz ging es dem Erfinder Eric Gauthier schon immer, deshalb ist Colours keine Nischenveranstaltung für Eingeweihte, sondern ein Publikumsfestival, das auch in diesem Jahr fast komplett ausverkauft war. Von Anfang an kuratierte Meinrad Huber das Programm, der damals, als der Tanz bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen noch eine wesentliche Rolle spielte, geradezu visionär die Stars von morgen in die Karlskaserne geholt hatte.

"Playground Open Class Eric Gauthier" auf dem Schlossplatz (Foto: Theaterhaus/Jeannette Bak)

Eric Gauthier beim „Playground Open Class“ auf dem Schlossplatz
(Foto: Theaterhaus/Jeanette Bak)

Gegenüber Berlin oder Wien legt Colours den Schwerpunkt eher auf den Streetdance und seine vielfältigen Entwicklungen, weniger auf zeitgenössisches Tanztheater oder Performance. Vor allem aber kehren regelmäßig die großen europäischen Choreografen der Gegenwart wieder – Akram Khan, Sidi Larbi Cherkaoui und Hofesh Shechter waren auch in diesem Jahr zu Gast, der viel umworbene Khan gar mit einer Uraufführung für Gauthier Dance; er zog die Theaterhaus-Kompanie tatsächlich dem Stuttgarter Ballett vor.  

… eine Terrakotta-Armee in kollektiver Wut

Sein „Turning of Bones“ schien von „Le Sacre du Printemps“ inspiriert, auch hier fordert ein Stamm ein Opfer von einem jungen Mädchen, das schließlich mit dem Stein, den alle anbeten, den Geliebten erschlägt. Dramaturgisch lange nicht so bezwingend wie „Outwitting the Devil“, Khans Weltuntergangswerk beim Festival 2019, setzt sich „Turning of Bones“ ganz bewusst aus den „alten Knochen“ des Choreografen zusammen, aus Bildern früherer Werke. In weiten, rüstungsartigen Röcken, die Kostümbildnerin Gudrun Schretzmeier der legendären Terrakotta-Armee nachempfunden hat, wirbelten sich die Barfuß-Krieger und -Amazonen immer wieder in eine kollektive Wut, ihre Arme wurden zu Waffen aller Art. Sämtliche 16 Tänzer waren das gesamte, düstere Stück über auf der Bühne, hatten Khans fließend-exakten, asiatisch getönten Stil perfekt verinnerlicht.

Akram Kahn: Turning of Bones (Foto: Theaterhaus/Jeannette Bak)

Gauthier Dance in „Turning of Bones“ von Akram Khan (Foto: Theaterhaus/Jeanette Bak)

Cherkaoui, der große Magier des Verschmelzens unterschiedlicher Idiome, enttäuschte in „Nomad“ ein wenig mit dem recht einfachen, zeitgenössisch heruntergebrochenen Breakdance seiner Kompanie Eastman – bis die Wüstenbewohner am Ende selbst zu Erde wurden. Eine Welt aus Illusionen zeigte Hofesh Shechter, einer der beiden Hauschoreografen von Gauthier Dance, in seinem „Theatre of Dreams“. Genial spielen der Israeli und seine Londoner Kompanie mit Theatervorhängen, die blitzlichtartig Lebensrealität und Träume enthüllen, um sie sofort wieder abzuräumen. Bis ganz hinten der letzte, prachtvoll dekorierte Vorhang wartet – und sich niemals öffnet. Wie immer schrieb Shechter die passende Rockmusik selbst, cool federnd versinken seine Tänzer in ihrer Selbstberauschung namens Leben.

… Songs, Zaubertricks, Mitmachtheater und Aufstand

Barak Marshall heißt der andere Hauschoreograf von Gauthier Dance, sein „Barker“ wird fortan als fröhlich-eklektizistische Revue aus nostalgischen Songs, Zaubertricks, Mitmachtheater und rasanten Tanzszenen das junge Publikum bezaubern. Marshall lässt sechs Bedienstete lautstark den Aufstand proben. Neben dem Amerikaner waren erneut Gauthiers Landsleute, die Kanadier, zahlreich vertreten: die zeitgenössische Ikone Marie Chouinard mit ihrem brandneuen „Magnificat“, die deutlich jüngere Virginie Brunelle mit „Les Corps Avalés“ und der Ex-Starballerino Guillaume Côté mit „Burn, Baby, Burn“, einer etwas zu effektheischenden Warnung vor dem Klimawandel. Verbrannte Erde, Flüchtlinge, die Atombombe: Ausgenommen düster waren die Themen des Tanzfestivals im Theaterhaus; ein Abbild der großen Sorge der jungen Generation und ein fast schon verzweifelter Aufruf zum Miteinander und zur Toleranz.

Barak Marshall: Barker (Foto: Theaterhaus/Jeanette Bak)

Gauthier Dance Juniors in „Barker“ von Barak Marshall (Foto: Theaterhaus/Jeanette Bak)

Das Miteinander finden viele neue Choreografen in einem verbrüdernden Clash der Tanzstile, der möglichst kreativen Vermischung verschiedener Idiome aus sämtlichen Kontinenten. Folklore, Pantsula, Martial Arts, Kathak, Reste von Ballett oder Gesellschaftstanz amalgamieren mit allen nur möglichen Arten des Streetdance und moderneren Entwicklungen wie Voguing, Krumping oder Whacking. So navigiert der Portugiese Marco da Silva Ferreira in „Carcaça“ zwischen Dorffest und Breakdance-Battle und spielt mit einem unheimlich leuchtenden Tanzboden, der die Abdrücke seiner lauthals skandierenden Rebellen bewahrt – oder sind die Körper bereits Leichen?

… tiefschwarz, taglos, kontrolliert, taghell

Der Londoner Botis Seva, ein Migrantenkind auch er wie so viele junge Choreografen, lässt in „Until We Sleep“ rastalockige Krieger durch eine tiefschwarze, taglose Welt flüchten. Vielleicht sind wir noch in der Kolonialzeit oder sie kämpfen in einer zerstörten „Mad Max“-Zukunft. Zu sparsamen Lichteffekten zeigt das beklemmende Stück verstörten, wütenden Überlebenskampf.

Das Ensemble Dance On in „Mellowing“ von Christos Papadopoulos (Foto: Theaterhaus/Jubal Battisti)

Absolut kontrolliert und taghell dagegen baut Christos Papadopoulos beim Berliner Ensemble Dance On mit einer kleinen, aber ständigen Motion eine riesige Energie auf: „Mellowing“ bedeutet in etwa „Reifwerden“, und reif sind diese Tänzer über 40, so geschmeidig wie elegant. Nach der verschwundenen Mitte der Gesellschaft sucht die New Yorkerin Michelle Dorrance mit ihrem Avantgarde-Stepptanz, im Dialog mit dem Ensemble der Street-Dancerin Ephrat Asherie blitzt das intellektuelle, moderne Amerika auf, das wir einmal bewunderten. Heimlicher Star des Festivals war der Franzose Amala Dianor, der raffiniert die Assoziationen vom indischem zum afrikanischen Tanz, vom Flamenco zum angeberischen Stolzieren des Voguing herausfiletierte. Am Ende hatte seine völlig diverse Truppe das halbe Publikum auf die Bühne geholt, das glücksstrahlend im getanzten Weltfrieden vor sich hinschwofte.

Foto Startseite: Gauthier Dance Juniors in „Barker“ von Barak Marshall (Theaterhaus/Jeanette Bak). Colours 2025 ist beendet. Infos, Rückblicke und zu gegebener Zeit die Ankündigung des nächsten Festivals unter https://www.coloursdancefestival.com/de.


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Aktuelle Beiträge

  • Getanzte Angst, getanzter Weltfriede beim Colours Festival im Theaterhaus
    Beim Colours International Dance Festival im Theaterhaus war abermals Tanz aus aller Welt zu Gast – und unsere Autorin Angela Reinhardt auch.
  • Kammerchor figure humaine mit kühl beglückender Schönheit
    Der in Stuttgart verwurzelte Kammerchor figure humaine hat in der Martinskirche Möhringen eine Werkschau des französischen Komponisten Philippe Mazé aufgenommen. Jürgen Hartmann hat sich die soeben veröffentlichte CD angehört.
  • Harbuschs Tipps des Monats
    Welche Konzerte sollte man in der zweiten Juni-Hälfte in Stuttgart besuchen? Ute Harbusch empfiehlt die Kombination Schlagzeug und Orgel, ein Jugendbarockorchester, einen Komponistinnentag und ein modernes Oratorium.
  • Wie war’s bei den „Beethoven-Gedanken“ der Stuttgarter Philharmoniker?
    Mit ungewöhnlichen Konzertformaten bespielen die Stuttgarter Philharmoniker gerne ihren Probensaal im Gustav-Siegle-Haus. Jetzt besuchte Ute Harbusch dort ein Konzert mit Lesung und erzählte Petra Heinze davon.
  • Das wunderwirkende Cannstatter Kulturmenü
    Ein Menü mit 30 Gängen will erst mal bewältigt sein. Unser beim Cannstatter Kulturmenü flanierender Korrespondent Holger Schneider hat nicht alles, aber vieles gekostet – danach fiel er ermattet aufs Sofa und war vollauf zufrieden. Hier ist seine Reportage.