Die Online-Kulturzeitung für Stuttgart und Umgebung


Hartmanns Sommergeschichte

Meine schönste Sommermusik? Jazz im Schlosspark, von Weinreben umgeben? Orgelkonzert in angenehm kühler Kirche? Nein, Jürgen Hartmanns schönstes sommerliches Musikerlebnis fand statt vor einer Reihe schneebedeckter Birken.

Es war natürlich kein echter Schnee, es war nicht einmal Kunstschnee. Es war schierer Theaterzauber, der die Freilichtbühne im westfälischen Tecklenburg für einen Musicalabend in eine russische Winterlandschaft verwandelte: Weiß schimmernde Bäume, silbriges Licht – und schon waren die Temperaturen von rund 35 Grad vergessen, bei denen die vielen Beteiligten wacker ihren Dienst versahen. Denn „Doktor Schiwago“ bedeutet ganz unausweichlich: Man singt und spielt in Wintermänteln und bedeckt von warmen Mützen.

Ein Dramaturg soll streng inhaltlich denken und knirscht mit den Zähnen, wenn Stücke, die in Büros spielen oder eben den russischen Winter eingeschrieben haben, im Juli auf Freilichtbühnen erscheinen. Aber schon Goethe wusste: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Und die Verlagskasse, aus der jener Dramaturg das Gehalt für seinen Hauptberuf bezieht, darf gerne klingeln.

Alles egal. Wenn die Musik gut ist, wenn eine Geschichte mitreißt, wenn sorgfältig produziert und authentisch dargestellt wird, dann überspringt die Kunst jeden Alltag. Die eigenen Sorgen verblassen für eine Weile angesichts der ewig gültigen Schicksale von treffsicher erfundenen Bühnenfiguren. Das Erlebnis eines Kunstwerks schärft den Blick für den aktuellen Weltzustand, gerade wenn ein historischer Stoff im Spiel ist. Und ja, gerade das chronisch unterschätzte Genre Musical kann so etwas sehr direkt vermitteln.

Das Publikum mag geschwitzt haben und das Ensemble auf der Bühne noch viel mehr – dieser „Doktor Schiwago“ ist unvergesslich, auch weil er bezeugte, dass gutes Musiktheater in einer eigenen Liga spielt. Das Wetter jedenfalls haben die vielen Menschen, die an diesem Sommertag mitliebten und mitlitten, irgendwann kaum mehr bemerkt.

Foto: Das Musical „Doktor Schiwago“ von Lucy Simon in Tecklenburg (2019, Fotocredit: Freilichtspiele Tecklenburg e.V. / Stefan Drewianka)


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Aktuelle Beiträge

  • Alte Liebe
    Zum ersten Mal in der 56-jährigen Geschichte der King’s Singers sitzt ein König auf dem britischen Thron. Holger Schneider ließ sich überzeugen, dass „die Königlichen“ ihren Namen wirklich noch verdienen.
  • Balance aus Pracht und Maß
    Mit dem Kammerchor und dem Barockorchester Stuttgart hat Frieder Bernius erneut eine Messe und weitere Werke von Jan Dismas Zelenka auf CD herausgebracht. Susanne Benda ist hellauf begeistert.
  • 200 gut singende Leute als Basis
    Der Schweizer Komponist Klaus Huber wäre am 30. November 2024 einhundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gibt es in der Bad Cannstatter „Musik am 13.“ Hubers Werk „Sonne der Gerechtigkeit“. Die Kesseltöne haben den künstlerischen Leiter Jörg-Hannes Hahn dazu befragt.
  • Das Herbsträtsel: Wer schrieb das?
    Sie waren mehr als Freunde, mehr als Vertraute, mehr als Verbündete und mehr als Liebhaber. Wenn Beziehungen ein Puzzle sind, dann war ihres von Anfang an vollständig.
  • Die Kesseltöne lesen: Die große Versuchung
    Weil zwei Konzerte abgesagt wurden, haben Ute Harbusch und Petra Heinze den jüngsten Roman des peruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa gelesen. Wäre Live-Musik ergiebiger gewesen?