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Raus aus dem Getto: Donaueschingen wird global

Das usbekische Omnibus-Ensemble in Donauscheschingen, Foto: SWR/Astrid Karger

Wie dekolonisiert man Neue Musik? Mit dem Schwerpunkt „Donaueschingen global“ haben die Donaueschinger Musiktage in ihrem 100. Jahr einen Blick auf Komponisten und Werke jenseits der zentraleuropäischen Szene riskiert.

Von Susanne Benda

Nein, hier gibt es keine Andenfolklore. Die kolumbianischen Ensembles Maleza und CG sind zu den Donaueschinger Musiktagen eingeladen worden, um dort eine eigene, südamerikanische Spielart der zeitgenössischen Musik zu präsentieren. Wenn sie gemeinsam auftreten, hat die Klarinette ihren Platz neben der Bambusflöte Quena, Geige und Cello finden sich neben der kleinen Querflöte Pifano, der Panflöte Siku und der einhändig gespielten Flöte Pinkillu. In seinem Stück „Tejidos andinos“ konfrontiert der peruanische Komponist José Sosaya Wekselmann eine elektronisch verfremdete Renaissance-Motette mit Flötentönen: ein Clash der Klangkulturen. Sein Landsmann Juan Arroyo geht sogar noch weiter: Wenn er in „Wayra“ an Jean-Philippe Rameaus Ballett-Oper „Les Indes galantes“ anknüpft und dessen künstliche Inka-Welt in die südamerikanische Sprach- und Klangsprache zurückübersetzt, dann kommt dies fast jener Restitution von geraubtem Kulturgut nahe, die völkerkundliche Museen zurzeit zu Recht vehement beschäftigt.

Wie blicken wir von Europa aus auf Werke des so genannten „globalen Südens“, die mit dem hierzulande noch immer präsenten Begriff der Avantgarde nichts oder nicht viel zu tun haben? Die auf spielerische, manchmal vielleicht auch naive Weise Formen unserer Kultur, die sie über die Kolonisierung kennenlernten, selbstbewusst mit eigenen Klangfarben, Metren, Melodien und Rhythmen füllen und sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob ein Stück jetzt vielleicht zu tonal, zu post-romantisch oder gar zu pathetisch klingt? Bleiben wir, wenn wir so etwas hören, in unserem Innersten weiterhin Kolonialherren, fühlen uns überlegen und tun die Werke der einst Besiegten gönnerisch als nettes, aber doch epigonales Kunsthandwerk ab?

Schnitt. Dasselbe Festival, ein anderer Saal. Die Mitglieder des usbekischen Omnibus-Ensembles verziehen bei ihrem Auftritt keine Miene. Ernst gehen sie zu ihren Pulten, fangen einfach an zu spielen: Oboe neben persischer Harfe, Geige neben Panflöte. Später wird einer von ihnen aufstehen und zu dirigieren beginnen. Sand und Wasser rinnen in Schalen. Seile werden aufgespannt. Der Schlagzeuger schreit wie ein Vogel: guuu-ick, guuu-ick. Das alles fügt sich zu einem langen Klangfluss – Sätze einzelner Werke, die von den Musikern gemeinsam mit Komponisten unterschiedlicher Nationalitäten erarbeitet wurden, werden ineinander verschränkt. Der Werkbegriff löst sich auf. Und die Musik findet zurück zu ihrer Wurzel: dem Ritus.

Zwei Konzerte, zwei Versuche, dem komplexen Thema „Donaueschingen global“ gerecht zu werden, mit dessen (überfälliger) Setzung sich der künstlerische Leiter der Donaueschinger Musiktage, Björn Gottstein, nach sieben Jahren von seinem Festival verabschiedet. Kleinere nächtliche Performances und zwei Klanginstallationen ergänzten den Schwerpunkt, für dessen Finanzierung die Kulturstiftung des Bundes mit gesorgt hat.

Initiativen zur Weitung des Blicks über Zentraleuropa hinaus gab es bei diesem Festival schon öfter, aber noch nie zuvor wirkten sie entschieden und so dringlich. Und der Donaueschinger Impuls ist wichtig – so wie andere Entwicklungen in Sachen Diversität, die Gottstein anstieß. Im 100. Jahr seines Bestehens hat das älteste und traditionsreichste Neue-Musik-Festival der Welt 2021 ein Programm präsentiert, bei dem fast die Hälfte der Werke von Frauen komponiert wurden. Das war beim Amtsantritt des scheidenden Intendanten 2015 bei weitem noch nicht der Fall. Man muss, zeigt das, nur anfangen – und dann beharrlich sein. Trotz aller Widerstände, denn eine wirkliche Dekolonisierung der Neuen Musik müsste nicht erst bei der Einladung nicht-europäischer Ensembles und Komponisten beginnen, sondern bereits bei der Verstärkung unseres Wissens über andere Kulturen und bei mehr Bildung in anderen Ländern. Dann irgendwann kann und muss man den Mut haben, nicht nur mit einem Label wie „Donaueschingen global“ ein ästhetisches Getto zu markieren, sondern Komponisten aus nicht-europäischen Ländern selbstverständlich im Hauptprogramm zu präsentieren – und das Fremde, Andersartige in ihren Werken nicht nur anzunehmen, sondern womöglich gar zu bestaunen und als Bereicherung zu empfinden. In Donaueschingen warten viele Türen darauf, weiter geöffnet oder überhaupt erst aufgeschlossen zu werden. Für die neue Chefin Lydia Rilling gibt es viel zu tun.


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