Jean-Christophe Spinosi, Foto: Jean-Baptiste Millot (via Wikimedia Commons)
Beethovens Neunte ist ein zentrales Werk des Repertoires – zumal in Stuttgart. Dass ein einziges Ritardando die ganze Welt meinen kann, spürte Jürgen Hartmann im ersten Abonnementskonzert des SWR-Symphonieorchesters sogar vor dem Bildschirm.
Für Roger Norrington, der dem damaligen Radio-Sinfonieorchester den „Stuttgart Sound“ anerzog – sehr verkürzt gesagt: kein Vibrato, kein Vibrato, kein Vibrato! Dafür Tempo, Tempo, Tempo! – war das Adagio in Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie, der „langsame“ dritte Satz, der Prüfstein. An ihm könne man erkennen, ob Beethoven wirklich ernst genommen werde. Mit rund elf Minuten für das Adagio halbierte Norrington beinahe den von Wilhelm Furtwängler Jahrzehnte zuvor gesetzten Langsamkeitsrekord. Aber auch als Bewunderer von Norringtons Stuttgarter Tätigkeit muss man sich eingestehen: Es war doch alles sehr schnell damals, und vielleicht auch allzu „cool“.
Wie dem auch sei – die Zeiten ändern sich, aber wer mit dem mittlerweile zum SWR-Symphonieorchester umgemodelten Klangkörper dieses zentrale Werk des Repertoires einstudiert, begegnet einer besonderen Herausforderung. Im ersten Abonnementskonzert in der dem Livestream-Anschein nach ausverkauften Liederhalle Stuttgart stand nun der Franzose Jean-Christophe Spinosi am Pult. Prüfergebnis Tempo: Das Adagio dauerte etwa 13 Minuten. Prüfergebnis Vibrato: Ja, ein bisschen, und das war auch gut so. Zwar klang manches ein wenig verwaschen, zwar musizierte das Orchester streckenweise eine Spur zu routiniert und pflegte den Kontakt zu dem ohne Taktstock arbeitenden Gastdirigenten nicht eben optimal. Aber Beethoven kam in voller Breite zur Geltung: Herzhaft und risikofreudig schmetternde Naturhörner kontrastierten mit wunderbar warmem Streicherklang, der militärische Teil mit Tenorsolo war auf Zack gedrillt, die Tutti-Seligkeit kurz vor Schluss überaus romantisch. Dass Spinosi dem freudentrunkenen Chorgewühle bei Schillers Widmung „der ganzen Welt!“ ein überraschend starkes Ritardando aufsetzte, war ein imposantes Beispiel von Klangrede à la Harnoncourt: Mit Freude ist es aktuell zwar nicht so weit her, aber dass man Schwierigkeiten am besten gemeinsam überwindet, stimmt noch immer.
Der SWR ließ für dieses Konzert das NDR-Vokalensemble (und das Chorwerk Ruhr) anreisen, obwohl er doch einen Chor in der eigenen Anstalt hat. Dies wird Skeptiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abermals bestärken. Aus dem Konzertkalender des SWR-Vokalensembles sind die Gründe nicht ersichtlich, aber es wird sie wohl gegeben haben. Der wie das Orchester mittelgroß besetzte Chor beeindruckte nicht gerade durch Klangpracht, bewältigte die berüchtigte Aufgabe aber angemessen problemlos. Das Solistenquartett jedoch fand sich so gar nicht zusammen: Nahezu perfekt und ätherisch zart die Sopranistin Christina Landshamer, selbstbewusst aufgeraut die Altistin Lena Belkina, nicht gut disponiert der Tenor Kenneth Tarver und ein wenig zu sehr in die eigene Stimme verliebt der Bassist Tareq Nazmi. Da kochte jeder sein eigenes Süppchen, was den vokalen Anteil des Abends gegenüber dem Orchester spürbar abwertete.
Das Konzert wird am 18. September in Wien und am 19. September in Freiburg wiederholt. Als Aufzeichnung ist es laut SWR „demnächst“ online unter diesem Link zu sehen.
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