Von wegen Schrebergarten! Nicht den Vereinsmeiern, sondern dem Sohn des zweifelhaften Namenspatrons widmeten sich die Neuen Vocalsolisten im Theaterhaus mit den „Schreber Songs“. Das Ende ist Wahnsinn, und Holger Schneider war dabei.
Als Leipziger Lausbub blieb es mir jahrelang ein Rätsel, was die Leute in ihren Schrebergärten trieben: das „Schrebern“, so viel stand fest. Aber was es genau bedeutete, fand ich nie heraus. Später verschwand das Rätsel in der Menge der wirklich wichtigen. Dass Moritz Schreber mit den Schrebergärten eigentlich herzlich wenig zu tun hatte und lediglich posthum als Namenspatron für das propere Projekt der nachmals vereinsmeierischen Naherholungs-Kleinstparzellen herhielt: sei’s drum.
Zweifelhafte Meriten erwarb sich Herr Schreber allerdings durch seine erzieherischen Manifeste. Er wollte nichts weniger als den „neuen Menschen“, kerngesund und rein an Körper und Geist. Überzeugt davon, ideale Wesen allein durch Erziehung formen zu können, entwickelte er orthopädische Apparate für eine gerade Haltung und testete sie an den eigenen fünf Kindern. Schwarze, nein: schwärzeste Pädagogik.
Den beiden Söhnen hat dies zumindest nicht geholfen: Der ältere schoss sich mit Ende 30 eine Kugel in den Kopf, der jüngere, Daniel Paul, endete im Wahnsinn. Um den ging es in den 70 Minuten, die ich am 19. Juli im Saal T3 des Theaterhauses Stuttgart durchlebte. „Sommer der Künste – Villa Massimo zu Gast in Stuttgart. 18 Künstler*innen, 8 Institutionen“ – so das üppige Label des Festival-Rahmens dieser aufwändigen Inszenierung von Musik der Jahrhunderte.
Enges Gestühl. Trügerische Souveränität der Zuschauer-Position: auf das Bühnengeschehen herabschauend. Die Neuen Vocalsolisten in Gerichtsformation. Vorn eine verhüllte verkrümmte Figur: Countertenor Daniel Gloger alias Daniel Paul Schreber. Schlagzeugerin Vanessa Porter als empathische Anstaltspatientin, die sich hinter debiler Fassade zu schützen sucht und ihre Gefühlseruptionen später über Membranen, Hölzer und Metalle ihrer Batterie in den Raum schleudert. Ein selbstspielendes Klavier, an das sich immer wieder Schreber setzen wird. Während der ganzen Aufführung nicht das kleinste Mucksen, Glucksen, Gickern im Publikum. Eine „Kammermusik mit szenischen Elementen“ erwarte uns laut Bezeichnung der „Schreber Songs“ des Komponisten Marcus Schmickler… „Überwältigungs-Klang-Licht-Theater“ wäre treffender gewesen. Möglicherweise stammt das Kennzeichen noch von der szenisch deutlich kargeren Kölner Uraufführungs-Version von 2022.
Inhalts-Abriss-Versuch: basierend auf Schrebers Geschichte, der es in seiner Anwalts-Karriere zum Senatspräsidenten des Dresdner Oberlandesgerichtes schaffte, unmittelbar darauf allerdings erneut von psychotischen Wahnvorstellungen heimgesucht wurde, während der Behandlung in der Anstalt Schloss Sonnenstein seine „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ verfasste und damit den Widerruf seiner Entmündigung erstritt. Sein Fall und die Memoiren waren (Sigmund Freud) und sind bis heute Gegenstand psychologischer Debatten.
Die Szenerie (Regie: Titus Selge) bewegt sich in beklemmend-atemberaubenden Wechselspiel aus dem Innersten der Schreberschen Wahnvorstellungen, dargestellt durch alle Beteiligten: Die Protagonisten wechseln Kleider und Funktionen, die Sänger werden zu jenen kleinen Menschengestalten, die Schrebers Nerven malträtieren und sein Rückenmark auspumpen, die grandios agierenden Neuen Vocalsolisten zwischenzeitlich kommentierend in der Art eines antiken chorós, Überblendungen, Retrospektiven, Projektionen ins Heute.
Irre Lichteffekte: stroboskopisches Aufblitzen der Nervenbahnen, magische dreidimensionale Lichttunnel („göttliche Strahlen“) als Wurmlöcher in jenseitige Dimensionen, die sich mit Schrebers Wahnwelt bis über das Weltende hinaus überschneiden, halbtransparente mehrschichtige Projektionsebenen (Erinnerungen an Schlingensiefs Bayreuther Parsifal!), ineinander verschachtelte Ebenen komplexer Klangstrukturen aus verstärkten, mitunter verzerrten Stimmen, Streichern, Klavier, Schlagwerk, Elektronik. Das alles als Ausdruck einer verrückten Welt, in der nur Schreber selbst jene Logik und Konsistenz zu erkennen vermochte, mittels derer er der „normalen“ Gesellschaft ihrerseits eine von Vernunft beherrschte Logik absprechen konnte.
Doch nein, der Schreber dieses Abends war damit keineswegs souverän, er konnte sich nicht aus dem theatralischen Konstrukt seiner Wahnwelt befreien, gar emanzipieren: Das Bild eines eremitischen und endgültig weltvergessenen Coders an der Konsole, grausig verzerrt durch eine Live-Cam auf die entgleisten Gesichtszüge Schrebers: Hier war die Geschichte der Figur zu Ende, so wie der Mensch Schreber 1911 in der Heilanstalt Dösen in geistiger Umnachtung verstarb.
Elias Canetti sah die Ausweglosigkeit seiner Paranoia darin, dass er „wo immer er eine Maske wegzieht, seinen Feind dahinter“ findet: Viel zu gut kennen wir Heutigen solcherart Phänomen.
Fotos: Martin Sigmund/Musik der Jahrhunderte
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