Lange hatte sie es vor. Endlich hat sie es gewagt. Unsere Redakteurin Ute Harbusch stürzte sich am vierten Adventssonntag in die Menge, um am 6. Stuttgarter Weihnachtssingen im Kickers-Stadion teilzunehmen.
Gemeinsam singen – da bin ich sofort dabei. Schon im Gottesdienst am Morgen hatte ich mein Bestes gegeben. Aber jetzt steht die ultimative Potenzierung an: 8175 Kehlen sollen im ausverkauften Gazi-Stadion gemeinsam Weihnachtslieder singen. Sonderzüge der SSB sind im Einsatz, um die Sängerinnen und Sänger auf die Waldau zu transportieren. Ich bin warm angezogen und voll adventlicher Vorfreude auf klangliche Überwältigung, bereit, vom Gemeinschaftsgefühl überflutet zu werden und als kleiner Tropfen im Ozean des Gesangs aufzugehen.
Gemeinschaft, Verbindung, Mitgefühl, Vielfalt und Frieden sind denn auch die in der Begrüßung beschworenen Werte. Vielzahlig ist das biodeutsche Publikum, aber vielfältig? Doch wer bin ich, da Steine zu werfen. Immerhin, die Show wird auch per Livestream übertragen in Krankenhäuser, Altenheime und die Welt. Der Chatmaster liest aus den Kommentaren vor und übermittelt Grüße aus Katar, Kanada und der Oberpfalz. Wir sind also wirklich viele, und sicher auch irgendwie verbunden.
Andererseits auch wieder getrennt durch das Spielfeld. Den Rasen illuminieren tanzende, ständig wechselnde Lichtprojektionen in vielen bunten Farben, in der Mitte funkelt ein Tannenbaum. Ein Augenschmaus. Haupttribüne, Gegentribüne und die Seite der Auswärtsfans sind voll besetzt. An der zweiten Schmalseite spielt die Musik. Überdacht untergebracht sind dort die Ejus-Brass-Band – Ejus steht für Evangelische Jugend Stuttgart – unter der Leitung von Christof Schmidt, der Schlagzeuger Till Müller-Kray, Tobias Bodensiek am Bass, Marie Louise und Christian Langer, Vocals, und vorneweg, an Gesang und Keyboard und mit Schal um den Hals, Patrick Bopp. Der Zeremonienmeister des Abends trifft nicht nur die richtigen Töne, sondern durchweg auch die richtigen Worte.
Aufstehen zum Einsingen. Erst mal wegatmen, den ganzen Stress. Gähnen. Herrlich, funktioniert immer bei mir. Erste Töne formen auf ein beherztes schwäbisches „Ha noi“. Als erstes gemeinsames Lied, oder noch eher als Etüde, dann die Melodie von „Lasst uns froh und munter sein“ auf den Text „Schlapp schlapp schlapp-schlapp-schlapp-schlapp schlapp schlapp schlapp“. Witzig. Jetzt auf den Text „Ad – vents – ka-len-der-ad – vents – ka – le …“ und so weiter, eine Silbe pro Ton. Wenn man sich konzentriert und alles richtig macht, kommt man am Ende passend raus. Geschafft! Meine Freundin und ich strahlen uns an.
Heiter, hochmotiviert und noch mit warmen Füßen steigen wir ein ins Programm. „Alle Jahre wieder“, Rolf Zuckowskis unverwüstliche „Weihnachtsbäckerei“ als Reggae, „Rudolph the Red Nosed Reindeer“, englisch- und deutschsprachiges, christliches und weltliches Liedgut bunt gemischt. Die Texte sind zum Mitlesen auf einem großen Screen und sogar auf der seitlichen Bande eingeblendet oder auf dem Handy abrufbar. Die Melodien hat man im Kopf, ziemlich viele sogar, wie wir erstaunt feststellen. Bei den einen sitzt „Was soll das bedeuten“ besser, bei den anderen „I’m Dreaming of a White Christmas“.
Trotz allem: Stadiongesänge sind das noch nicht. Meine Freundin und ich geben alles, wir singen hohen Sopran und tiefe Begleitung, wagen im Gospel auch mal ein „Hallelujah“ in die Menge zu werfen – aber die Menge ist so leise. Wie kommt das? Eigentlich höre ich nur mich selbst, obwohl hier 200 Prozent mehr Leute sind als in jeder Chorprobe, in jedem Gottesdienst. Der Augenschmaus in der Mitte erweist sich akustisch als garstiger Graben, von drüben rieseln leise Weisen herüber. Wir sitzen in der letzten Reihe, die beiden Kickers-Fans links neben uns singen gar nicht mit, rechts ist die Treppe. Akustische Isolation statt Zusammenklang.
Etwas atemlos huschen wir durchs Programm, denn unser Zeremonienmeister muss dafür sorgen, dass wir pünktlich um 18 Uhr zur Live-Schalte von SWR Aktuell „Feliz Navidad“ schmettern. Danach steigt meine Stimmung wieder. Zwei Reihen weiter vorne wird Weihnachtsgebäck aus einer Tupperdose herumgereicht. Das Paar vor uns tanzt fröhlich, fußwärmend und armschwingend, was wir sofort imitieren. Das Beleuchtungsspektakel wird schöner und schöner. Die Firma Scholpp hat einen gigantischen Kran spendiert, der eine metergroße Diskokugel überm Stadion absenkt und zwar keine Schnee-, aber immerhin Lichtflocken übers uns alle verteilt.
Und dann kommt er doch noch, der magische Moment. Zur Stadionhymne „You’ll Never Walk Alone“ entzünden wir die Kerzen, die wir beim Einlass geschenkt bekommen haben. Tausende Lichtlein funkeln. Aber das ist es noch nicht. Mir versagt’s die Stimme beim nächsten Stück: „We shall overcome, some day“. Alle stehen dazu auf. Wir denken an den Krieg, an Magdeburg. Wohlstandsverwöhnt und verschont, wie wir sind, singen wir das Bürgerrechts- und Protestlied, das auf einen Gospelsong zurückgeht und so ähnlich klingt wie „O du fröhliche“. Die Kapelle schweigt und 8000 Menschen singen a cappella die Hymne der Hoffnung. Stadiongesänge sind das immer noch nicht, denn wir singen statt zu gröhlen. Das ist leiser. Doch ich denke, wieder einmal, es gibt wirklich sehr viele blödere Dinge auf der Welt als gemeinsam Musik zu machen.
Foto: Bernd Eidenmüller
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