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Wie der Fleck zur Vase fand

Menschlich-tierische Zwischenwesen und ein rätselhafter Fleck: „Just before Falling“ im FITZ, präsentiert vom El Cuco Projekt, spielt zwischen Urzeit und Apokalypse. Unsere Redakteurin Ute Harbusch fand die Performance irritierend und tröstlich zugleich.

Vor dem Theater ist auch schon das Theater. Ebenso wie danach. Bevor ich auf die eigentliche Vorstellung zu sprechen komme, möchte ich den äußeren Rahmen beschreiben, in dem sie sich abspielte. Er kam meinem letzten Sommer geträumten Traum von einer vollkommenen Veranstaltung schon ziemlich nah.

Im überdachten Innenhof, den das FITZ sich im Stuttgarter „Kulturareal unterm Turm“ mit dem JES und der tri-bühne teilt, konnte ich mein Fahrrad sicher und trocken anschließen. Erster Pluspunkt. An der Kasse galt das Solidarprinzip: Zahle nach deinen Möglichkeiten. Weiterer Pluspunkt. Im Theaterfoyer gab es vorher Suppe und nachher ermäßigte Getränke für all diejenigen, die noch bleiben und sich austauschen wollten. Plus und noch mehr Plus.

Erste spontane Eindrücke konnten wir auf Postkarten schreiben, die an die Wand gepinnt wurden und – mangels lebendiger Theaterkritik – einen kollektiven Echoraum für die künstlerischen Erlebnisse schufen. In bequemen Sesseln, Sofas, Stühlen kamen beim Nachgespräch Zuschauer:innen und Ausführende zusammen. Zwar wurde dabei nicht ganz deutlich, ob das Gespräch für das Publikum, für die Künstlerinnen oder für die Moderatorin stattfand, aber immerhin, es fand statt. Neue Formate verlangen Übung von allen Beteiligten.

Erlebt haben wir den Eröffnungsabend von „Figure it out“, einem einwöchigen „Showcase“, der seit 2022 in jährlichem Wechsel in Leipzig, Berlin und nun dieses Jahr in Stuttgart stattfindet und sich hier ins Spannungsfeld zwischen Tanz und Figur, zwischen menschlichem und künstlichem Körper begeben will. Was ein Showcase sei, fragte rhetorisch die Theaterleiterin Katja Spiess in ihrer Begrüßung und zitierte das Wörterbuch: Ein Glasbehälter für kostbare Gegenstände oder eine Umgebung, in der etwas am besten zur Geltung gebracht werde.

Das Juwel, das an diesem Abend in der Vitrine lag, war „Just before Falling“ vom Kölner El Cuco Projekt. Fesselnd schon der Soundtrack mit seiner Musik (Komposition: Valerij Lisac), seinen Klängen, Geräuschen und Worten, die aus dem Off eingespielt wurden. Je genauer die Frauenstimme versuchte, Dinge zu definieren, desto poetischer wurde die Sache. Leichthin gelang der Bogen vom Alltäglichen zum Metaphysischen.

Eine Flurecke mit Kommode, Bildern und Schirmständer deutete Alltag und Heimat an, der Rest der Bühne war leer und dunkel, abgesehen von einem rätselhaften hellen Fleck auf dem Boden. Die beiden Darstellerinnen trugen identische Allerweltskleidung und hyperrealistische, leicht überdimensionierte Tiermasken. Als Echse, Vogel oder Fuchs mit großen Kinderaugen und scharfen Zähnen überspannten sie in zahllosen kleinen, mit Wiederholung und Abweichung spielenden Sequenzen den gesamten Zeitraum der Evolution (Choreografie, Masken, Text, Bühne: Sonia Franken, Gonzalo Barahona) und verorteten das Geschehen irgendwo zwischen Urzeit und Apokalypse.

Abgesehen von kurzen humoristischen Einlagen standen nicht Gegenstände im Mittelpunkt, sondern die Körper der ausgezeichneten Tänzerinnen (Carla Jordão, Jimin Seo). Diese wahrten eine irisierende Balance zwischen Mensch und Tier, eine irritierende Übereinkunft von Körper und Gegenstand. Das Nicht-Passende, die Abweichung wirkte durchweg als kreativer Impuls, erzeugte Unbehagen, aber auch befreiendes Lachen.

Und dieser rätselhafte Fleck auf dem Boden? Immer wieder, Sequenz für Sequenz, zog er die Aufmerksamkeit der Tiermenschen auf der Bühne und der Publikumsmenschen in den Stuhlreihen auf sich. Sequenz für Sequenz fiel die Vase immer ein Stückchen weiter von der Kommode herunter. Kurz bevor sie aufschlug, nahm eine Tierfrau den Fleck vom Boden auf und legte ihn unter die Vase. So fand nicht der Topf seinen Deckel, sondern das Verschüttete zu seiner Vase zurück. Das hatte etwas unausgesprochen Beruhigendes, ja Tröstendes. Langer Applaus.

Foto: Julia Franken

Weitere Aufführungen gibt es bis 30. Juni – weitere Informationen hier.


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