Die Online-Kulturzeitung für Stuttgart und Umgebung


Wie Susanne Benda zur klassischen Musik kam

Foto: Victor S. Brigola

In unserer Sommerserie verraten die Kesseltöne-Autoren etwas aus ihrem Leben.

Als ich ein junges Mädchen war, lief sonntags zum Essen immer der Plattenspieler. Zum Frühstück: monumentaler Bach unter Karl Richter (und warum gab’s da eigentlich immer nur saure Stachelbeermarmelade?). Zum Mittagessen: Händel, Halleluja, auf Deutsch, wahrscheinlich auch unter Karl Richter, und mein Vater bekam immer zwei Stücke vom Braten. Zum Abendessen: Benny Goodman und Fats Waller (ja, nicht Domino), mein Vater liebte das, und warum steht wieder mal der Senf nicht auf dem Tisch? Davor oder danach: Canasta oder Rommé (beides sind keine Komponisten).

Ins Sinfoniekonzert durfte ich manchmal mit, wenn einer meiner Eltern nicht mitgehen konnte oder wollte, dann saß ich zwischen meiner Mutter oder meinem Vater und Tante Ingrid, die mit Vorliebe bei langsamen Sätzen Bonbons aus schrecklich lautem Knisterpapier auspackte. Mein Vater erzählte mir, dass Pauker unten auf dem Boden eine Maß Bier stehen haben und immer, wenn sie sich bücken, daraus einen Schluck nehmen. Das fokussierte meine Wahrnehmung und brachte mich zu meinem Gustav-Mahler-Erweckungserlebnis (die Sechste, mit den Kuhglocken).

Meine Oma, damals wohnhaft in der DDR, stand für mich stundenlang in Leipzig vor Plattenläden Schlange und schenkte mir dann Opernquerschnitte, das Schönste aus „Zauberflöte“ und „Freischütz“. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir Kuscheltiere und eine Kassette mit Mozart-Klaviersonaten, gespielt von Wilhelm Kempff. Als das ZDF aus unserer katholischen Pfarrgemeinde einen Gottesdienst übertrug, sang ich die Solorolle in einem Singspiel über Noah. In dem Kübel begeisterter Zuschauerbriefe befanden sich etliche, die „dem Noah mit der Glockenstimme“ dringend ein Gesangsstudium ans Herz legten.

Wenig später machte ich ein Praktikum bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, und der Musikredakteur dort unterstellte mir Begabung für’s Fach. Eigentlich wollte ich Schriftstellerin oder Lehrerin werden, aber in gewisser Weise ist man das beides als Musikjournalistin ja auch. Ob sich mein musikalischer Geschmack aufgrund oder trotz meiner musikalischen Sozialisation entwickelt hat: Diese Frage bleibt, und sie ist ebenso ungeklärt wie bedrückend.


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Aktuelle Beiträge

  • Balance aus Pracht und Maß
    Mit dem Kammerchor und dem Barockorchester Stuttgart hat Frieder Bernius erneut eine Messe und weitere Werke von Jan Dismas Zelenka auf CD herausgebracht. Susanne Benda ist hellauf begeistert.
  • 200 gut singende Leute als Basis
    Der Schweizer Komponist Klaus Huber wäre am 30. November 2024 einhundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gibt es in der Bad Cannstatter „Musik am 13.“ Hubers Werk „Sonne der Gerechtigkeit“. Die Kesseltöne haben den künstlerischen Leiter Jörg-Hannes Hahn dazu befragt.
  • Das Herbsträtsel: Wer schrieb das?
    Sie waren mehr als Freunde, mehr als Vertraute, mehr als Verbündete und mehr als Liebhaber. Wenn Beziehungen ein Puzzle sind, dann war ihres von Anfang an vollständig.
  • Die Kesseltöne lesen: Die große Versuchung
    Weil zwei Konzerte abgesagt wurden, haben Ute Harbusch und Petra Heinze den jüngsten Roman des peruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa gelesen. Wäre Live-Musik ergiebiger gewesen?
  • Stehenbleiben wäre unkreativ
    In „Goldbergs Traum“ verbindet das Stuttgarter Kammerorchester Bachs Goldberg-Variationen nicht nur mit zeitgenössischen Kompositionen, sondern auch mit Künstlicher Intelligenz. Jürgen Hartmann sprach darüber mit SKO-Intendant und Initiator Markus Korselt.