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Kunst auf dem digitalen Grabbeltisch?

Lesezeit: 2 Minuten

Von Susanne Benda, Foto: Victor S. Brigola

Alles kein Problem. Die Lichter im Konzertsaal sind aus, der Computer ist an. Unter dem Druck der Pandemie macht sich die Kunst klein und quetscht sich durchs Internet.

Musiker, Schauspieler, Sänger kommen frei Haus ins heimische Wohnzimmer. Zweidimensional zwar nur, klanglich um Welten von Live-Akustik entfernt und atmosphärisch ziemlich anämisch, aber immerhin, sie tun was gegen die Angst, vergessen zu bleiben; sie bleiben sichtbar.Das Corona-Virus treibt nicht nur Künstler in finanzielle und psychische Nöte, sondern hat die Kunst zur Billigware oder gar zum Umsonst-Goodie gemacht. Wer früher für einen mittelguten Platz in der Oper um die fünfzig Euro zahlte, kriegt jetzt den Livestream umsonst. Spitzenkunst, in einem leeren Saal von Kameras und Mikrofonen eingefangen, buhlt darum, zumindest virtuell wahrgenommen zu werden, daheim. Hochkultur auf dem Bildschirm, Bier und Chips auf dem Couchtisch, und komisch eigentlich, dass zwischendurch keine Werbung kommt.

Der virtuelle Kunstgenuss ist Seelentrost für Künstler, die monatelang ein Projekt erarbeitet haben, immer mit dem Ziel vor Augen, dieses dem Publikum live zu präsentieren. Ihnen bietet das Streaming einen kleinen Ersatz. Allerdings bei hohem energetischem Aufwand, denn keine Kamera ersetzt jenes Live-Publikum, das Musikern und Darstellern seine Konzentration und Aufmerksamkeit schenkt. Manches Streaming-Angebot ist außerdem der schlichten Tatsache geschuldet, dass projektbezogene Gelder ausgegeben werden müssen.

Aber Kunst aus der Kiste ist nur Ersatzdroge. Man sieht keinen Schweiß, man spürt keine Energie und auch nicht die Gemeinsamkeit der Rezeption, die ein sozialer Kitt ist. Und, Vorsicht, Kunst kostet: Zeit, Energie, Kraft, Kreativität. Wer Theater, Konzerte und Opern besucht, weil ihm Kunst hilft, sein Leben besser zu verstehen und den Blick über den Alltag hinaus zu weiten, der muss dafür bezahlen, damit die Künstler leben und weiter Kunst schaffen können. Geld ist Teil der Wertschätzung. Um zu diesem Kern des Problems zu kommen, muss man nur den bekannten Spruch, dass das, was nichts kostet, nichts wert ist, umkehren: Das, was etwas wert ist, muss etwas kosten. Kultur ist ein hoher Wert. Das spüren wir jetzt, wenn wir ihr nicht live begegnen dürfen.

Umsonst-Kultur bietet den Vorteil des Sichtbarbleibens, und sie ist niedrigschwelliger als Live-Kultur, die sich oft in alten, eher verschlossenen Gebäuden ereignet. Aber wenn Kultur zu lange und zu intensiv gratis angeboten wird, landet sie irgendwann auf dem bunten digitalen Grabbeltisch. Dann darf sie sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft sie nicht mehr als außerordentlich, wichtig und förderungswürdig empfindet, wenn Politiker Subventionen senken und kein Mensch recht verstehen will, warum auch Kulturschaffende Millionen von Corona-Hilfen bekommen sollen. Alles kein Problem? Von wegen.


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