Der Dramaturg und Musikfestplaner Oliver Geisler (Foto: René Gaens)
Am 18. Juni beginnt das von der Bachakademie veranstaltete Musikfest Stuttgart. Es steht 2022 unter dem Motto „Ins Paradies“. Darüber hat Jürgen Hartmann mit dem Dramaturgen und Programmplaner Oliver Geisler gesprochen.
Jürgen Hartmann: Der Titel des Musikfests Stuttgart 2022 lautet „Ins Paradies“. Erste Frage dazu: Wie kommt man dahin?
Oliver Geisler: Wenn ich darauf eine Antwort hätte, wäre ich in den Olymp der Philosophen aufgestiegen! Das Thema ist spannend, weil das Paradies sowohl etwas Verlorenes sein als auch eine Erwartung darstellen kann, ein „nicht mehr“ oder „noch nicht“. Es gibt Begriffe, nach denen wir streben, die wir zwar nie erreichen, die dennoch ganz große Bedeutung haben. Glück ist so ein Begriff. Die Suche nach dem „Begriff Paradies“ ist ebenfalls eine Triebfeder unseres Daseins, gerade auch aus religiöser Perspektive, die wir mit unserem Schwerpunkt in der geistlichen Musik spiegeln. Als wir uns vor etwa drei Jahren für dieses Motto entschieden, konnten wir nicht ahnen, wie uns die Wirklichkeit durch Pandemie und Krieg einholt. Die Sehnsucht nach Frieden, nach Momenten oder Orten, wo alles gut ist, hat nun überdeutlich mit uns und unserer Gegenwart zu tun.
Jürgen Hartmann: Wirkt sich diese Wandlung vom Abstrakten zum überaus Konkreten unmittelbar auf die Perspektive von Kunstschaffenden aus, seien es KomponistInnen oder Ausführende?
Oliver Geisler: Ich kann natürlich nicht in Köpfe und Herzen hineinsehen. Aber im Dialog mit Künstlerinnen und Künstlern über Programme zu diesem Thema bemerkte ich schon, dass es relevant für sie ist. Wir hätten es uns leicht machen können mit einem strahlenden Eröffnungskonzert. Aber wir haben uns entschieden, in medias res zu gehen und mit den „Sieben letzten Worten“ in den Vertonungen von Sofia Gubaidulina und Joseph Haydn zu beginnen. „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ lauten die zweiten dieser letzten Worte – von einem gesprochen, der am Kreuz hängt, gerichtet an zwei Menschen, die ebenfalls am Kreuz hängen. Was für eine drastische Szene!
In unserem Auftragswerk von Mark Andre im Rahmen der „Sichten auf Bach“ wiederum geht es um den heiligen Geist; darum, wie ein schöpferischer Geist einen Zustand inneren Friedens erreicht, der auch etwas Paradiesisches ist. Ich glaube, wenn wieder Menschen auf und vor der Bühne sich für ein, zwei Stunden versammeln können, in einem geschützten Raum, kann das ein friedlicher Ort sein, wo man auftanken kann. Denn die Akkus sind bei vielen Menschen leer.
Jürgen Hartmann: Nicht zuletzt wollen Sie aber auch Reibungen am Thema Paradies erzeugen, scheint mir.
Oliver Geisler: Ja, es gibt einige Reibungen. Ein Konzert liegt mir sehr am Herzen, das „Quartett für das Ende der Zeit“ von Olivier Messiaen. Messiaen war im Winter 1941/42 in einem riesigen Lager in Görlitz interniert. Man kann sich nicht vorstellen, dass an einem solchen Ort Musik entsteht, die mit dem Paradies zu tun hat. In solchen Werken ist zu spüren, wie stark Kunst sein kann. Und wie mit „Paradies“ auch die Schattenseiten unserer Zeit erzählt werden können. Ich habe mich viel mit Heinrich Schütz beschäftigt, der einen Großteil seines Lebens im Dreißigjährigen Krieg verbrachte, und ich frage mich oft: Wie kann man in einer solchen Lage so positive Musik schreiben? Und heute geraten wir schon in Panik, wenn die Benzinpreise steigen. Da können wir demütig werden und viel lernen über die wirklichen Probleme, aber auch erkennen, wieviel Kraft wir aus der Musik ziehen können.
Jürgen Hartmann: Hinsichtlich der Vielfalt und auch in den Formen der Präsentation hat sich das Musikfest mit den Jahren stark verändert. Welche Veranstaltung in diesem Jahr ist für Sie das größte Experiment?
Oliver Geisler: Da kann ich mich nicht auf eine einzige Veranstaltung festlegen, sondern muss Ihnen zwei beschreiben. Die eine ist unser „BachClub“: Sechs Mädchen zwischen 14 und 16 sind eingeladen, ein Konzert zu entwickeln, sozusagen als Kulturmanagerinnen von morgen. Sie treten mit ganz neuen Fragen an die klassische Musik heran. Es geht ihnen darum, dass etwas Buntes entsteht, dass Bewegung dabei ist. Sie sagten: Eigentlich wollen wir Schaum, mindestens aber Konfetti. Und wir mit unseren Klassikroutinen kriegen erst mal Schnappatmung, wenn wir das hören. Aber es ist auch heilsam, denn wir lernen dazu. Wir konnten dafür mit dem Stegreif-Orchester ein Ensemble gewinnen, das genau dort anknüpft, die klassische Bühnensituation auflöst und im Stehen mitten unter dem Publikum musiziert, wie in einer Erlebensgemeinschaft. Die sechs Mädchen haben alles organisiert, Ticketing, Marketing, Sponsorenbriefe. Das andere Experiment sind die kompletten Rosenkranz-Sonaten von Biber, mit der Geigerin Mayumi Hirasaki. Das sind 3 ½ Stunden Musik, wie eine lange Meditation. Heute gehen so viele Menschen zum Yoga, um sich zu versenken. Das kann man auch bei diesem Konzert. Wir machen das in einer speziellen Anordnung, die Musiker sind im Zentrum, das Publikum im Kreis um sie herum. Und dieses Konzert wird stark nachgefragt, was sehr für die Sachkunde des Stuttgarter Publikums spricht.
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