Petra Heinze interessiert sich für Kleidung. Das hat mit ihrer Geschichte zu tun. In unserer Sommerserie berichtet sie, wie Menschen in Berlin sich stylen und was Mode damit zu tun haben könnte.
Als Teenager hatte ich es mit meinem Gardemaß von 1,80 Metern nicht leicht, denn es gab damals noch kaum passende Hosen für mich. Wissen Sie, wie das ist, wenn man in der Pubertät ist, den Jungs gefallen will und immer Hochwasser trägt? Ziemlich blöd.
Omas Nähmaschine half
Also lernte ich Nähen auf der Tretnähmaschine meiner Großmutter. Die Ergebnisse waren unterschiedlich: Manches galt als „cool“ und musste ich für Klassenkamerad:innen nachnähen, anderes war schlicht untragbar. Über die Jahre wurde ich immer besser und das Nähen mein liebstes Hobby. Inzwischen ist fast meine komplette Garderobe selbstgemacht. Nur als ich mich auch noch an Unterhosen wagte, versagte ich gänzlich…
Zwangsläufig begann ich, mich für Stoffe, Farben und Formen zu interessieren, und neben den Modeheften meiner Mutter sorgten die Menschen in Bus und Bahn für meine Inspiration. Das ist immer noch so: Wo andere mit ihrem Smartphone verschmelzen, sauge ich auf, was die Menschen anhaben.
Frauen in „Männerschuhen“
In den Berliner Öffis habe ich schon lange keine mehr gesehen: High Heels. Frauen tragen eher kernige Stiefel, die ihnen einen amazonenhaften Look verleihen, wenn sie kräftig, und einen kindlichen, wenn sie zierlicher Statur sind. Im Bus erklingt momentan die Durchsage, dass Berlin hart, aber herzlich sei. Vielleicht muss frau der Härte der Stadt mit solidem Schuhwerk begegnen, vielleicht ist es aber auch Ausdruck eines neuen Frauenbildes, dass man sich auf keinen Fall mehr mit unbequemem Schuhwerk abquält, um Männern zu gefallen. Auch die mir ursprünglich verhassten Hochwasserhosen sieht man, und vielleicht hat das einen ähnlichen Grund.
Es gibt jedoch noch eine weniger schöne Ursache: Die Menschen haben in Berlin teils sehr wenig Geld. Man ahnt, dass ihre Garderobe nicht neu von ihnen gekauft wurde. Trotzdem oder deswegen sind ihre Outfits oft sehr kreativ zusammengestellt und lässig getragen, also „cool“. In einem Berliner Stadtmagazin steht als Antwort auf die Frage, wie man in den begehrten Club Berghain kommt, man solle aussehen wie ein Obdachlose:r, bloß besser riechen. Ich würde wetten, dass der Oversized-Look, der Lagen-Look, wilder Muster-Mix, das Colour-Blocking und viele andere Trends, die inzwischen bei den teuren Roben der Modewelt eine Rolle spielen, ihren Ursprung in der Berliner U-Bahn haben.
Männer in „Frauenröcken“
Und was ist mit den Männern? Ihr Schuhwerk hat sich weit weniger verändert als das der Frauen. Aber so wie Frauen ursprünglich den Männern zugedachte Schuhe tragen, haben vor allem jüngere Männer ehemals weibliche Accessoires für sich erobert: Halsketten und Nagellack sind in Berlin keine Seltenheit mehr. Lange Röcke und Kleider sieht man ebenfalls öfter, vereinzelt auch Miniröcke, und ich muss es leider zugeben: Männer haben oft schönere Beine als Frauen, weil einfach mehr Muskeln. Zum Rock tragen sie Vollbart und sehen nach meinen veralteten Kategorien auf verwirrende Weise weiblich und männlich gleichzeitig aus.
Ich hoffe sehr, dass unsere zunehmend rückwärts krabbelnde Gesellschaft diese neue Vielfalt nicht zunichtemacht und man in Berlin beispielsweise weiterhin im Schlafanzug zum Bäcker gehen kann, ohne dass das irgendwen auch nur interessiert.
Foto: Apostolos Vamvouras, Unsplash
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