Bei Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ hatte die Stuttgarter Oper einen Vogel, präziser: Sie hatte mehrere, und sie hat uns auch mehrere gezeigt, einige innerhalb und einige außerhalb des Hauses und der Kunst.
Von Susanne Benda
Olivier Messiaens Oper „Saint François d’Assise“ ist ein zähes Stück Musiktheater. Gut vier Stunden lang handelt es von der Immerheiligerwerdung des ersten Franziskanerbruders, wobei diese weniger als spannende Geschichte denn als assoziativer Bilderbogen erzählt wird. Die musikalische Dekoration dazu liefern zahlreiche Vogelstimmen. Das ist der kolportierten Fähigkeit Franz von Assisis geschuldet, mit Vögeln sprechen zu können. Es entspricht aber auch der Leidenschaft des Komponisten, der gemeinsam mit seiner Frau Yvonne Loriod etwa 700 Vogelstimmen katalogisiert und die notierten Rhythmen und Melodien dann in seinen Werken verarbeitet hat.
Die Staatsoper hat nun beschlossen, das etwas dröge, aber zwitschersatte Stück nicht nur ins Heute zu biegen (Klimakatastrophe und ähnliches), sondern zusätzlich auch ein wenig zu eventisieren (junges Publikum gewinnen etcetera), sprich: die mittleren Szenen der Jahreszeit entsprechend ins Freie zu verlagern. Da dieses Freie vor dem Stuttgarter Opernhaus begrenzt beziehungsweise akustisch an diverses Bum-bum-bum fremdvergeben ist, entschied man sich für den Wartburg- und den Killesbergpark als Open-Air-Locations. Um dem ebenso groß wie aufwändig besetzten Orchester und dem knapp 1.400-köpfigen Publikum genug Zeit zum Umzug dorthin und wieder zurück zu ermöglichen, schickte man die Besucher:innen gruppenweise mit der Stadtbahn (Hilfe, Desillusionierungsschock!) ins Grüne. Dort erlebten sie zunächst den Berg hinauf pilgernd das vierte Bild mit einem Mp3-Player im Ohr und dekorativ platzierten, schillernd-engelhaften Statisten am Wegesrand. Danach gab es in der Freilichtbühne live jene Szene, die einen indoor wahlweise verzweifeln, meditieren oder einschlafen lässt: die Vogelpredigt, bei Messiaen ein klingendes Défilé von 41 namentlich genannten Vögeln. Das dauert, auch wenn das Staatsorchester unter Titus Engels Leitung deren Gesang sehr präzise und täuschend echt imitiert.
Mein Highlight und bis zum heutigen Zeitpunkt der musikalische Höhepunkt meines Sommers ist allerdings nicht die Kunst, mit der Messiaen Stimmen der Natur verarbeitet und mit der die Musiker:innen hier zu Werke gingen. Sondern die Natur selbst. Also das Original, nicht die Fälschung. Die ganz realen Vögel in den ganz realen Bäumen und um die Arena haben bei diesem „Saint François d’Assise“ nämlich ebenfalls ihr Bestes gegeben. Amsel, Drossel, Fink und Star, vielleicht auch Mönchsgrasmücke, Blaukehlchen, Steinschmätzer und Gimpel, wetteiferten mit den Instrumentalist:nnen um den Sieg wie im Märchen der Hase mit dem Igel. Keine Chance dort für den Hasen – er kann noch so schnell rennen und noch so kunstvoll Haken schlagen, am Ende ist immer irgendetwas Igeliges vor ihm am Ziel. Ähnlich verhält es sich jetzt beim Frischluft-Messiaen: Angestachelt von der Kunst, sang und tirilierte die Natur mit aller Kraft und in solcher Pracht, dass man schlichtweg bezaubert war. Sogar in der untheatralischsten aller Szenen war also mächtig was los. Und das obendrein im Surround-Sound!
Mag sein, dass neben dem eindrucksvollen Gezwitscher rund um die Bühne auch auf dieser selbst gesungen wurde, aber das ist nicht entscheidend. Von der auf acht monumentale Stunden angewachsenen XXL-Fassung der Oper über einen Mann, der sich für ein Leben in ärmlicher XS-Version entschied, wird mir der Zauber der echten Vögel draußen im Gedächtnis bleiben. Er überzeugte jedenfalls weit mehr als später im Opernhaus die herbeigezwungene finale Regie-Volte: In Stuttgart entschwebt der heilige Franziskus als Libelle in den Schnürboden. Wenn man das Stück schon seiner tief religiösen Grundhaltung beraubt, wäre es passender gewesen, ihn als Goldammer davonflattern zu lassen. Deren Gesang tönt übrigens fast wie der Anfang von Beethovens fünfter Sinfonie.
Foto: Malcom Brook, Pixabay
http://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/saint-francois-dassi
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