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„Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“

Zum zweiten Mal lud die Akademie für gesprochenes Wort zum Spoken Arts Festival ins Theaterhaus. Holger Schneider ließ sich von Lars Eidingers Großem Brecht-Abend begeistern und bewegen, aber nicht benebeln.

Bereits die Festival-Erstausgabe 2022 hatte den Kesseltöne-Autor ja rechtschaffen in den Hin-und-weg-Modus befördert. Nun war die Zerreißschnur aufs Äußerste gespannt, zumal die Festivalisen sie bereits ins schier Unendliche überdehnt hatten, mit einer wirklich verflixt späten Bekanntgabe des Termins respektive Programms. Tja, so gern hätte der Autor noch mehr besucht, doch den ganzen blöden Winter kann er sich leider nicht mal eben freihalten für ein Festival, das es verdient hätte. Sei’s drum.

Hellgrüner Hintergrund im ausverkauften T2, eine Stoffbahn aus dem Himmel zu uns. Darauf linker Hand die Brecht-„Klampfe“ für den Rundum-Musiker und Tausendsassa Hans-Jörg Brandenburg, angeordnet als triumphale Tasten-Trinität: Links Das Harmonium, nach hinten Das Cembalo (zu selten erklang es), rechts Das Klavier. Darauf, wie sich hernach entpuppte, doch noch sahnehäubchenmäßig ein Sampelmaschinchen, mit mehr (schräge Apfelböck-Drehleier) oder weniger gelungenen Synthie-Kreationen (beim Gedicht „Das Schiff“ klang’s eher wie schrullige Adventsglöcklein). Musik von Brecht, von Eisler, von Weill, aber auch von den Beatles, von Brandenburg und Was-weiß-ich-(eben nicht)-noch … Brandenburg schwelgte, kommentierte, reagierte, improvisierte, fieberte und sang mit: ein grandioser Grandseigneur der Noten.

Neben der Tastenlöwen-Staffage der Große Star, von nicht wenigen Seelen im Saal auch ohne Brechts weiteres Zutun angehimmelt, ebenfalls in heiliger Dreieinigkeit, nur viel karger: Der Anzug mit viel zu langen Ärmeln, scheinbar leblos, vom Kopf abgesehen, daran geknüpft Der Mann, davor Das Mikro. Als dann aber die Arme nach oben gingen, um Texte lesbar zu halten (viele auswendig vorgetragen), kamen Hände zum Vorschein und der Mensch wurde lebendig.

Vis-à-vis zum trinitarischen Arrangement der Saal. Quicklebendig. Schließlich hatten alle hier ihren Brecht mitgebracht. Diese von Achtundsechzig, jene aus der Sprechkunst. Der Autor aus der alten Schule in Leipzig. Und alle mussten sie ihn für diesen Abend vergessen. Lars Eidinger hatte seinen Brecht mitgebracht, und der war so unvorstellbar persönlich, so entschauspielert, so … ja, abgeklärt. Für manche der Seelen ein Schock mit viel Nachdenken, ob der eigene Brecht überhaupt für eine Referenz tauglich bliebe.

„Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“ Der berühmte Satz der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus dem Lehr- und Theaterstück „Die Mutter“ war als Thema vorangestellt. Eidinger hatte das Programm eigens für den Abend kreiert – getreu einem Markenzeichen des Festivals. Die meisten Gedichte waren der „Hauspostille“ entnommen und in einem sehr (zu?) stimmigen Aneinander mit weiteren Texten und Liedern zum Großen-Brecht-Abend-Ganzen gefügt. Eine Zäsur hätte mithin gutgetan. (Vorschlag: ein „Andante religioso“, frei nach Rossini, oder irgendwas aus einer völlig andern Zeit, Solostück nur für die Tasten.)

Das „Lob des Kommunismus“ wurde ins Publikum gehudelt (wenigstens um uns die grausig-schnöde Tatsache bewusst zu machen, dass wir jegliche Utopie verloren haben), die „Seeräuber Jenny“ ließ ihr „Hoppla!“ hören, „Denn wie man sich bettet“ aus „Mahagonny“ sang er, und auch „Die Ballade vom ertrunkenen Mädchen“ suchte er uns nahezubringen (da war der Tastenpegel zu grob und Eidinger nicht ganz eins mit dem Text, sagte die Frau des Autors). „Der Choral vom großen Baal“ war einer der Höhepunkte: gnadenlos im Singsang der Ergötzung an den Worten, eine Apokalypse, die aus der Nicht-Beteiligung des Erzähler-Ichs entstand. Groß auch Brechts „Großer Dankchoral“ mit der Schlusszeile „Und ihr könnt unbesorgt sterben“ (Eidinger: „Und jetzt alle!“ – „Sterben … sterben … sterben …“).

Ein genialer Einfall gebar einen der tiefdunkelsten Momente des Abends, in einem der bekanntesten Gedichte: „An die Nachgeborenen“. Im kalten Lichtspiegel seines Handys, im völlig verdunkelten Saal, sah man das Gesicht des – nunmehr – Schauspielers, und er machte Brechts Bekenntnis „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“ mit höchster Sprachkunst, Finesse des Rhythmus und seiner großen Liebe zu Brecht zu einem unendlich langen Augenblick der Atemlosigkeit. Wer allerdings am End auf die Idee kommt, die Kinderhymne weniger als Hymne, mehr als Liebeslied (L. E.) haben zu wollen (stimmt ja!), dem sollte klar sein, dass unweigerlich Tränen kullern müssen. Ist ja Brecht, 1950, das schönste Deutschlandlied, die schönste Hymne gelungen, die je geschrieben wurde, überliefert auch in einer jener verstörend authentischen Aufnahmen mit dem genialen Hanns Eisler.

Riesenapplaus, gerührte Menschen, etliche überwältigt, der ganze Saal der Seelen sehr begeistert. Spiritus Rector Joachim A. Lang, Filmregisseur und erfahrener Brecht-Mann, wird auf die Bühne geholt und freut sich, im Halbdunkel vorn am Randplatz freut sich des Festivals Alma Mater, die Stifterin Uta Kutter. Der Autor aber sucht nochmals nach seinem Brecht und fragt sich, was er hörte. Eidingers Stimme. Nie kalt, so eisig auch der Hauch der Worte ins Gesicht schlug. Nie verletzend, weder im Klang noch in der Höhe. Nie explosiv in den Konsonanten oder fremd in den Vokalen, immer sanft, immer sanft. Selbst im Unmöglichen der Liebe so nah wie möglich, geradezu flehentlich.

Ein Brecht, der nicht wehtat? Ein Brecht, der sehr wehtat, wenn er im Menschen Eidinger derart lebendig wurde, dass er uns mit seiner steten Selbstbefragung und -geißelung mit abgrundtiefer Schwere auf die Brust drückte, immer sanft, immer sanft. Auf die Brust derer längst Nachgeborenen, die wir hier zufrieden saßen, schließlich doch unsern Brecht bekamen und womöglich grinsten wie Fratzen auf einem Gemälde von Grosz oder Dix. Nur eben im Dunkeln. Die sieht man nicht.

Foto: Björn Klein

www.spoken-arts-festival.de


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