Weil zwei Konzerte abgesagt wurden, haben Ute Harbusch und Petra Heinze den jüngsten Roman des peruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa gelesen. Wäre Live-Musik ergiebiger gewesen?
Petra Heinze: Liebe Ute, wir haben „Die große Versuchung“ von Mario Vargas Llosa ausgesucht, weil es darin um Musik gehen sollte. Wurden deine Erwartungen erfüllt?
Ute Harbusch: Um Musik geht es in der Tat. Es wird sogar die verlockende Möglichkeit gezeigt, dass Musik gesellschaftliche Gräben zuschütten und eine friedliche Gemeinschaft der Peruaner, der Lateinamerikaner, wer weiß, vielleicht sogar der ganzen Welt erzeugen könnte. Aber diese Hoffnung wird zum Schluss auf irritierend lapidare Weise wieder zerstört. Wie überhaupt der Roman viel weniger südamerikanisches Flair verströmt, als ich dachte. Auch weniger Esprit und Kunstfertigkeit. Im spanischen Original heißt er „Le dedico mi silencio“, „Ihnen widme ich mein Schweigen“ oder „meine Stille“. Möglicherweise ist die Stille wichtiger als die Musik. Ehrlicher. Vielleicht geht es gar nicht vorrangig um Musik, sondern um etwas anderes? Was meinst du?
Petra Heinze: Vordergründig geht es um einen Musikkritiker, der den peruanischen Walzer über alles verehrt. Denkwürdig ist seine Begegnung mit einem Vals-Gitarristen, den er ein einziges Mal erlebt und wie eine Erleuchtung feiert. Schließlich schreibt er ein Buch über ihn, das als Ich-Erzählung in den Roman eines auktorialen Erzählers eingestreut wird. Die Schreibe dieses Toño ist blumig und sentimental. Es fiel mir schwer, seine Kapitel nicht zu überspringen. Der lakonische bis ironische Stil des allwissenden Erzählers amüsierte mich dagegen sehr. Macht sich da ein Schriftsteller über sich und seine Zunft lustig?
Ute Harbusch: Amüsant fand ich die erzählenden Kapitel nicht, sondern ermüdend sachlich und voller Wiederholungen. Wie in seinem großen Roman „Tante Julia und der Kunstschreiber“ hat Vargas Llosa hier wieder jeweils die ungradzahligen Kapitel für die eigentliche Geschichte und die geradzahligen für das entstehende Werk – Toños Buch – verwendet. Den mit spürbarer Liebe zu seinem Land geschriebenen Durchgang durch die peruanische Geschichte, von den Indios über die Conquista bis zum kommunistischen Terror der 1980er Jahre, fand ich lehrreich und berührend. Aber sicher, es liegt nahe, dass der 88-jährige Autor in seinem erklärtermaßen letzten Roman abrechnet mit dem Sinn seines Tuns und dem des Schreibens überhaupt. Kann Kunst die Welt besser machen? Er scheint, trotz seines Nobelpreises, daran zu zweifeln. Aber was für ein Alter Ego hat er sich da mit diesem Musikkritiker geschaffen?
Petra Heinze: Einen im wahrsten und übertragenen Sinne armen Menschen, der von seiner Frau mühsam ausgehalten wird, mit der ihn sonst wenig verbindet. Eitel ist er auch, und er hat massive psychische Probleme: In stressigen Situationen halluziniert er Ratten, die ihm unter die Kleidung kriechen und ihn anknabbern wollen. Wie deutest du das?
Ute Harbusch: Das ist sein Minderwertigkeitskomplex. Kaum hat er Erfolg, verschwinden nämlich die Halluzinationen. Gleichzeitig gibt es überall echte, nicht eingebildete Ratten. Sie leben massenweise in den ärmlichen Gassen von Lima, in denen der peruanische Walzer seine Wurzeln haben soll, und sie drohten sogar diesen Wundergitarristen zu töten, der als Baby auf einer Müllkippe ausgesetzt wurde – eine weitere Anspielung auf den „Tante Julia“-Roman. Ein einziger Rattenbiss hätte also dieses musikalische Genie vernichten können, bevor es noch zur Entfaltung gekommen wäre.
Petra Heinze: Vielleicht sind die Ratten auch ein Symbol für die Gefährdung, der Schriftsteller:innen ausgesetzt sind? Wie es Toño geschieht, können sie jahrelang mittellos herumkrebsen, dann plötzlich Erfolg haben, überall gefeiert werden, um schließlich erneut auf Anfang gestoßen zu werden. Darüber, dass Menschen Künstler:innen gerne idealisieren, macht sich Vargas Llosa ganz sicher lustig: Der geniale Gitarrenspieler war im Leben eher ein Widerling und auch Toño selbst besticht nicht durch ein angenehmes Wesen … Nun meine letzte Frage: Sollen wir diesen Roman empfehlen oder ist er schlicht zu langweilig?
Ute Harbusch: Ich empfehle, peruanische Walzer zu hören.
Der Roman ist im August 2024 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Foto: Pete Linforth auf Pixabay
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