Zum Start der kesseltönigen Reihe über Beethovens Neunte, die Paradesinfonie zum Jahreswechsel, ging Susanne Benda auf die allgemeingültige, zeitlose Aussage des Werks ein. Jürgen Hartmann sekundiert ihr mit Gedanken zu glorreichen Aufführungen.
Was ist der Sinn von Ritualen? Sicherheit zu verbreiten? Selbstvergewisserung zu ermöglichen? Oder ist alles bloß Routine? Letzteres gilt eher für das Neujahrskonzert in Wien, das schnell ein bisschen langweilig werden kann. Hm-ta-ta in Dauerschleife, dann Radetzkymarsch, und nach einigen Takten Donauwalzer wünscht der Dirigent ein gutes neues Jahr. Da passt es, wenn man beim Neujahrsbrunch noch ein letztes Gläschen Sekt zwitschert, während Thielemann den Taktstock schwingt.
Zu Beethoven, gar zur Neunten, passt das eigentlich nicht. Und gerade so wird die Sache interessant, als Ritual mit Reibung. Das Gefühl von Sicherheit, geschenkt: Die Neunte, man kennt sie! Der neue Dirigent, geht so, aber die Sopranistin noch besser als letztes Jahr! Selbstvergewisserung, das ist schon nicht mehr so einfach: Klar, alle lieben Beethoven, manche können die Neunte mitsingen, aber dass sich die visionäre Weltumarmung auch zwei Jahrhunderte nach der Uraufführung nicht eingestellt hat, eignet sich nicht für einen unbeschwerten Trinkspruch.
Und Routine – nein, die muss nicht, kann nicht sein. Es hat sich so viel getan in Sachen Beethoven, und Stuttgart war daran sogar beteiligt. Man muss Roger Norringtons manchmal aberwitzige Tempi (die Neunte, gerade mal eine Stunde!) ja nicht durchweg mögen, aber seine Beethoven-Abende waren Sternstunden, auch wenn sie auf CD nicht so strahlen wollen wie die überraschenden Beethoven-Erkundungen von Claudio Abbado (nie machten die Berliner Philharmoniker so viel Krach!) oder Paavo Järvi (nie hörte man die Details, den Dialog der Instrumente so geschärft!). Bei Giovanni Antonini tönt die Neunte nicht nur dialogisch, dialektisch, divers, sondern sogar gebietsweise heiter, was dem Werk ganz gut steht, und auch Altmeister wie Blomstedt und Chailly haben kürzlich der sprengkräftigen Sinfonie viel mehr als routinierten Glanz abgewonnen.
Die Neunte zum Jahreswechsel, zum 3. Oktober, zu lokalen Gedenktagen ist nicht Routine, sondern Chance. Auf der sicher sich anfühlenden Grundlage eines Rituals wird ein Werk, das uns viel zu sagen hat, immer aufs Neue befragt. Vielleicht wird dieses Werk mit einem Kontrastmittel belebt, mit ganz neuer oder auch mal ganz alter Musik vorneweg. Wie auch immer: Um diese Sinfonie nur als routinierte Feierstunde zu verstehen, müsste man geradezu weghören. Und da sei Beethoven vor!
Abb.: Beethoven-Triptychon, Teil 2, von Holger Schneider
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