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Klangrausch als Gottesdienst

Lesezeit: 2 Minuten

„Invisible Threads“ heißt das neue Werk des Briten Christian Mason, das beim Stuttgarter Festival Eclat das Arditti Quartet aufführte. Unsichtbare Fäden verknüpfen sich in der Performance Installation mit Texten von Paul Griffiths. Susanne Benda war dabei.

Kann Klang die Gesellschaft verändern? Glaubt man dem britischen Komponisten, Musikkritiker und Autor Christian Mason, dann ja. Gerne spricht der 40-Jährige darüber, wie Klänge die Zeiterfahrung verändern können – bei Musikerinnen und Musikern ebenso wie bei den Lauschenden. Beim Stuttgarter Neue-Musik-Festival Eclat ist Masons Stück „Invisible Threads“ jetzt aber auch so etwas wie eine Utopie gewesen: die (wie man heute gerne schick sagt: „immersive“) Erfahrung einer verbundenen Gesellschaft.

Diese Gemeinschaftserfahrung hat etwas von einem Gottesdienst. Die Veranstalter des Festivals von Musik der Jahrhunderte haben die große Halle T 1 des Theaterhauses während des gesamten verlängerten Wochenendes leergeräumt, um neue Raum-Erfahrungen möglich zu machen. Beim Rundgang der Schlagzeugerin Vanessa Parker am Eröffnungstag hat das noch keine neuen Perspektiven eröffnet. Wohl aber jetzt. Der Saal wirkt tatsächlich wie eine Kathedrale der Klänge. Sängerinnen und Sänger der Neuen Vocalsolisten sorgen mit Mundharmonikatönen schon im Foyer für ein Gegenstück zum kirchlichen Orgelspiel geleiten, das einen hinein geleitet in ein ritualisiertes Schreiten und Tönen.

Die Anfangstöne kann man erst kaum orten. Kommen sie von der Empore oder aus den Fluren hinter den geöffneten Türen? Die Neuen Vocalsolisten (wunderbar sauber intonierend!), die Streicher des Arditti Quartets (das nach dem Konzert auf sein 50-jähriges Bestehen anstößt), der Bassklarinettist Gareth Davis und der Akkordeonist Krassimir Sterev lassen sich erst hier nieder, dann dort, bilden Inseln des Klangs, spielen kleine Tonfolgen oder Intervalle, geben sie weiter, nehmen auf, was andere singen oder spielen, finden dann wieder in neuen Konstellationen zusammen.

Zu hören ist eine sehr eigene Art von Post-Minimalismus – ein feiner, sehr schöner, mäandernder Klangstrom aus Wiederholungen und subtilen Veränderungen. Er bleibt im Rahmen des Tonalen, es gibt viele Quinten. Die Klänge verändern sich im Raum, deshalb trägt das Stück den Untertitel „Performance Installation“ und will vom Publikum nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Füßen erobert werden. Das hat einen eigenen Sog. Wer sich einlässt auf die faszinierende Verschmelzung von Zeit und Raum, spürt nichts mehr vom Vergehen der Zeit. Man lächelt sich an, wenn man aneinander vorübergeht. 70 Minuten? Das kann doch nicht wahr sein.

Foto Arditti Quartet: Manu Theobald.

Das Eclat-Festival dauert an bis zum Sonntag, 4. Februar. Weitere Informationen unter www.eclat.org.


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