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Wie die Schallwellen zu den Ohren kommen

Musik und Bewegung, Klang und Räumlichkeit erforscht die Kanadierin Annesley Black. Am 18. Februar wird ihr Werk „A sound, a narrow, a channel, an inlet, the straits, the barrens, the stretch of a neck” vom Staatsorchester Stuttgart uraufgeführt. Jürgen Hartmann sprach mit der Komponistin.

Jürgen Hartmann: Wie gestaltete sich, nachdem Ihre Zusammenarbeit mit dem Staatsorchester als „Composer in Focus“ etabliert war, der künstlerische Weg zu ihrem neuen Werk?

Annesley Black: Die Konzertdramaturgin Claudia Jahn hatte das Orchester beim Podium Gegenwart angemeldet und wir kamen dann schnell ins Gespräch. Es gab zwei Ideen: die Raumkomposition, die es schließlich wurde, aber auch eine Art von interkultureller Komposition, für die ich mehr Zeit zur Recherche gebraucht hätte. Und die Zeit war knapp, ich musste ohnehin einige Projekte verschieben, um mich diesem Werk für Orchester zu widmen. Ich habe schon Stücke gemacht, bei denen Musiker im Raum verteilt waren und sich im Raum bewegt haben, aber noch nicht für Orchester.

Jürgen Hartmann: In einem Text über Sie steht, Sie führten „lebendige Angriffe auf dominierende Wahrnehmungspraktiken im Konzert“ aus. Fühlen Sie sich damit gut beschrieben?

Annesley Black: Das klingt für mich ein bisschen zu agressiv. Ich liebe Konzerthallen, ich finde es großartig, dass es Räume gibt, die nur dafür gebaut sind, dass man zuhört. Ich würde das nicht angreifen wollen, sondern erweitern. Ich will herausfinden, was mit diesen Sälen außerdem noch möglich ist! Es klingt anders, wenn man im Raum ist und nicht auf der Bühne, denn die Säle sind so gebaut, dass der Klang von der Bühne in den Raum getragen wird. Ich habe viel akusmatische Musik [eine Musik, deren Klangerzeugungsmittel nicht sichtbar und meist auch nicht identifizierbar sind; d. Red.] und elektroakustische Musik gehört und selbst solche geschrieben. Ich finde es ein interessantes Hörerlebnis, wenn sich der Klang im Raum bewegt und dadurch verändert. Mich interessiert, dass man polyphon arbeiten kann, wie früher Gabrieli, man kann sogar verschiedene Arten von Polyphonie schaffen. Und noch spannender ist es, wenn das angebunden ist an einen Menschen, einen Körper.

Jürgen Hartmann: Das müssen Sie noch ein wenig erläutern.

Annesley Black: Ich habe schon Stücke komponiert, wo die Körper der Ausführenden zum Teil des Materials geworden sind, mit dem ich komponiert habe. Es sind sehr besondere Stücke geworden. In „Smooche de la Rooche II“ sind die Schlagzeuger zunächst versteckt, und wenn sie auf die Bühne kommen, ist ihr Instrument ein Seil. Damit machen sie Klänge, aber auch Seilspringen! Es gibt auch ein Stück von mir, wo eine Kamera die Hände des Pianisten aufnimmt, das ist wie eine Choreografie und stellt eine Verbindung von Sehen und Hören her. Ich denke, Klänge sind schon Bewegung im Raum, als Schallwellen, die zu den Ohren kommen. Da finde ich es naheliegend, Stücke zu machen, in denen Bewegung eine Rolle spielt.

Jürgen Hartmann: Der Titel Ihres Stuttgarter Stücks ist für mich eigentlich ein Rätsel. Die Begriffe, die Sie dort verwenden, scheinen mir sehr vieldeutig zu sein.

Annesley Black: Mein Arbeitstitel, der mich lenken sollte, war „One flat thing reproduced reproduced“. Mit nur einem „reproduced“ ist das ein Stück des Choreografen von William Forsythe, er bezieht sich dort auf die erste Expedition in die Antarktis von Robert Falcon Scott. Bei Forsythe kann man sehen, wie dieser enorme Raum auf die Menschen wirkt. Wir denken heutzutage viel darüber nach, wie wir die Umwelt beeinflussen. Aber unsere Umgebung hat auch einen großen Einfluss auf uns, das wird besonders in Europa manchmal vergessen. Die Menschen um Scott waren nicht vorbereitet auf diesen Ort, der gefährlich, beängstigend, aber auch wunderschön ist. In meinem endgültigen Werktitel gibt es vier Begriffe, die mit Klang zu tun haben und zugleich eine geografische Bedeutung besitzen: sound, narrow, channel und inlet. Im geografischen Sinn haben sie mit dem Engerwerden zu tun, es gibt einen Eingang und dann wird es enger. Dann folgen im zweiten Satz straits, barrens und the stretch of a neck. Das sind ebenfalls geografische Begriffe, aber gleichzeitig Ausdrücke von Schwierigkeiten, von Anstrengung und Spannung. Beim „stretch of a neck“ könnte man sogar daran denken, dass sich das Publikum drehen und wenden muss, um die im Raum verteilten Musikerinnen und Musiker zu sehen.

Jürgen Hartmann: Wann haben Sie zum ersten Mal realisiert, dass Sie die frontale, traditionelle Konzertform erweitern wollen ?

Annesley Black: Ich habe als Teenager und mit Anfang zwanzig viel Theater gemacht und auch ein bisschen Regie geführt. Ich glaube, das ist der Ursprung. Das erste Stück, in dem ich das umgesetzt habe, war das mit dem Seilspringen, 2007. Mich haben solche Sachen immer interessiert, aber ich war am Anfang noch nicht so weit, ich wollte mich erst musikalisch entwickeln und meine eigene Klangsprache finden. Mir ist immer wichtig, dass die Musik selbst eine starke Präsenz hat, dass sie zwar mit bestimmten Konstellationen im Raum arbeitet, aber nicht vorhersehbar ist. Visuelles spielt eine Rolle, aber man soll auch die Augen schließen und nur zuhören können.

Foto: Amelia Kahn-Ackermann

Annesley Blacks neues Werk ist beim Staatsorchester Stuttgart am 18. und 19. Februar mit Stücken von György Kurtág und Hector Berlioz zu hören. Weitere Infos zum Konzert gibt es auf den Internetseiten des Staatsorchesters. Weitere Informationen über Annesley Black finden Sie auf der Internetseite ihres Verlags.


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