Das Stuttgarter Kammerorchester spielte in den Wagenhallen, Foto: Reiner Pfisterer
Die Menschen sitzen da und lauschen einem Wunder: staunend, träumend, genießend. Endlich wieder Kunst! Endlich wieder Musik! Endlich wieder mehr als nur Ängste, Lärm, Tod und Trümmer. Es ist der 18. September 1945; beim ersten Konzert des von Karl Münchinger neu gegründeten Stuttgarter Kammerorchesters (SKO) im Stuttgarter Furtbachhaus regnet es durch die Decke. Das Programm mag den Menschen egal gewesen sein: Zu hören war virtuose Barockmusik von Händel und Vivaldi, bei der man wahrnahm, welche Qualität das neue Ensemble hatte; dazu eine frühbarocke Suite von Johann Hermann Schein.
Von Susanne Benda
Am Freitagabend sitzen wieder Menschen da und lauschen einem Wunder: staunend, träumend, genießend. Endlich wieder Kunst! Endlich wieder Musik! Endlich wieder mehr als nur Ängste und der Blick auf Kurven von Infektionszahlen. Es ist der 18. September 2020; beim Jubiläumskonzert des Stuttgarter Kammerorchesters sitzen etwa 200 Besucher mit Corona-gemäßem Abstand im großen Saal der schick sanierten Wagenhallen und begeistern sich. Das Programm mag ihnen egal sein. Aber es ist ein Statement, ein Bekenntnis der Musiker zu ihren Wurzeln: Zu hören ist nochmals das Programm des Gründungskonzertes, virtuose Barockmusik von Händel und Vivaldi, bei der man wahrnimmt, welche Qualität die jüngste Generation des Ensembles hat.
Beim Frühbarock kommen die Musiker an Grenzen – oder die Ohren der Zuhörer, die diese Musik inzwischen anders zu hören gewohnt sind. Die 17 Streicher und ihr Chefdirigent Thomas Zehetmair, der beim Jubiläumskonzert als Primus inter Pares am ersten Pult steht, haben, obwohl sie auf modernen Instrumenten und immer wieder auch mit Vibrato spielen, die historische Aufführungspraxis tief verinnerlicht. Aber in dieser üppigen Besetzung wirkt Scheins Tanzfolge aus der Sammlung „Banchetto musicale“ viel zu flächig und zu massiv. Das würde das Orchester sonst wohl nie spielen.
Überhaupt: So ein Programm gäbe es heute nicht. Das SKO hat sich längst herausbewegt aus Karl Münchingers klassisch-barockem Spezialgebiet. Und aus der Art, wie es Scheins Allemande durch klangfarbliche und dynamische Abtönungen dann doch noch schillern lässt, kann man hören, wie weit es sich außerdem vom Klangideal und von der Ästhetik von damals entfernt hat.
Heute geht alles auf Differenzierung und viel in Richtung Individualisierung – zumal mit Thomas Zehetmair am Pult, der das Tempo der schnellen Sätze stark forciert und dem im Zweifelsfall Temperament, Gestaltung und das Ereignishafte der Klänge wichtiger sind als letzte tonliche Rundung und Präzision. Die Musik soll aus sich heraus leben, und das tut sie auch: dank solistischer Brillanz bei Händels Concerto grosso op. 6/11 ebenso wie bei dem d-Moll-Konzert aus Vivaldis „L’Estro armonico“. Den fast improvisatorischen Beginn der beiden Soloviolinen (Thomas Zehetmair und Yu Zhuang) wird man nicht vergessen; ebenso wenig den Klangzauber des zweiten Satzes in Vivaldis G-Dur-Sinfonie RV 149, bei dem die Musiker ihrem geigenden Chefdirigenten einen Pizzikato-Teppich ausbreiten, als seien sie ein einziges Instrument, eine Mandoline. Und das ist vielleicht die schönste Erkenntnis, die man von diesem Abend mit nach Hause nimmt: Das Stuttgarter Kammerorchester mag eine große Geschichte haben, aber es ist heute exzellent. Man darf gespannt sein auf die nächsten 75 Jahre.
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