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Unendliche Weiten beim Festival Uhlandshöhe

Lesezeit: 3 Minuten

Nah bei den Sternen erlebt Holger Schneider den Eröffnungstag des Festivals Uhlandshöhe. Unter freiem Himmel genießt er mediterrane Atmosphäre und Raritäten des italienischen sowie französischen Repertoires. Ob da auch ein Schubert passt?

Eine erste von ein paar harmlosen, sonnentrunkenen Regenhuschen beträufelt den fortan die Ich-Form wählenden Festivalbesucher just beim Aufstieg auf die Uhlandshöhe. Der erste Mensch, dem ich oben begegne, ist nackt: Bernd Stöckers feinherbe Eva von 1980. Ich nicke ihr kurz zu und suche auf dem kleinen Umweg Uhlands Antlitz, das einmal mehr (im Bewusstsein seines eher zufälligen Aufenthalts allhier?) streng und gedankenverloren Richtung Killesberg stirnrunzelt und mich mit grünspangeschmückter Ignoranz straft. Sei’s drum: Minigolf noch da – gottlob! Gärtnerei Locher noch da? Bedürfnisanstalt geöffnet? Alles da, alles wie vor zwei Jahrzehnten, als ich von der Ameisenbergstraße nach Cannstatt zog.

Die Sternwarte ein kleines Zeltlager: Zelte oben auf halber Höh und am Eingang, daselbst ausstaffiert mit Stehtischlein für die Gäste, Tellerchen mit Schnittchen, Olivchen und Käswürfelchen sowie einer feinen Auswahl an Getränken, feilgeboten vom jugendlich-frohgemuten Festival-Staff. Ich komme mehrmals und lasse es mir diesbezüglich wohl ergehen.

Kurze Führung in der Sternwarte

Meine Notizen beginne ich eingeklappt in einem grausigen Klemmstuhl, eingekeilt von ihrerseits eingeklemmten Omen. Ich sehne mich nach dem unendlichen Luxus einer Stiftskirchenbank. Zuvor kurze Führung oben in der Sternwarte, bei der mir erwartungsgemäß eine Salve unglaublicher (aber wahrer) mathematisch-physikalischer Phänomene um die Ohren fliegt: All-Aleatorik! Meinen Blick durchs Okular des 7-Zoll-Zeiss-Refraktors vereitelt eine weitere schnöde Husche – die Kuppel wird verschlossen, um das historische Riesen-Kleinod nicht unbotmäßig zu befeuchten.

„So voll war’s no’ nie!“, anerkennt eingeklemmt jemand hinter mir. Die Sonne hat übernommen und taucht die Waldebene im Osten vom Kesselrand her ins bislang goldenste Gold dieses Sommers. Langsam wird’s gemütlich. Der Körperklappmechanismus ist endgültig eingerastet. Hier komm ich nie wieder raus. Gustav Frielinghaus, Geiger und Festivalgründer, begrüßt zur dritten Ausgabe des Festivals Uhlandshöhe, dankt Förderern und Sternwarte und ich habe das Gefühl, für den Moment genau an der richtigen Stelle zu sein.

Entzückender Einstieg!

Als vier der mitwirkenden Festivalherren mit einer bezaubernden Jugend-Sonate von Rossini losstreichen, denk ich: Ich bin auch in Ravenna gewesen, aber auf Uhlands Höhe ist die Sonne eine Winzigkeit sonniger, und die Musiker schmeißen ihre Schlussakkord-Bögen viel theatralischer in den Himmel: Entzückender Einstieg! Der sehr ernste Maciej Frąckiewicz lässt sein Akkordeon Zaubereien mit César Francks Orgel-Pastorale vollführen, und eh ich verstehe, warum er den Sog erzeugt, bin ich vollends drin verschwunden: im kleinen Musikstern, verlöschend in einer für diese röchelnde Stadt geradezu unglaublichen Himmelsruhe …

Mein linkes Bein ist eingeschlafen. Hanna Rabe, vom Frielinghaus Ensemble aufs Famoseste beflügelt, harft das traute Zusammensein der Klappstuhlgefangenen ins Elysium – mit Claude Debussys „Deux Danses“ für Harfe und Streicher, leider viel zu schnell verklungen im interstellaren Raum über der Sternwarte. Ich lese in der Vita der Harfenistin und erfahre leider nichts über sie außer Ruhmesblättern, ja, aber die fliegen dahin.

Schuberts Streichquintett

Wie gut tut mir ein Schubert nach einem weißen Pausenburgunder? Naja … Gar zu gern hätte ich noch ein paar mediterrane Seltenheiten hier im kurzzeitigen Zenit der Stuttgarter Musikwelt erlebt. Aber: Das Streichquintett kannst du sowieso keinem Streicher ausreden! Das Werk ist galaktisch. Drum passt es wohl hierher. Ich war mir da wirklich nicht sicher. Bis sie loslegten: feinste Registerabstufungen, keine auch nur erahnte Gefahr, es könne dem Einzelnen an der falschen Stelle das Pferd durchgehen, die Fünfe kennen ihren gemeinsamen Nenner und nehmen der kosmischen Singularität die bedrohliche Seite, selbst dann, wenn im Adagio der geballte Wahnsinn dieser Welt in die Festival-Idylle bricht: Das ist jedes Mal neu, das kann kein Mensch wegstecken!

Zum Rhythmus des Rondothemas ein Nicken (mit unmerklicher Verzögerung) in den Reihen vor mir. Das holt mich zurück ins irdische Eingekeiltsein: Das ganze verzweifelte Tanzen- und Lieben-Wollen der Welt, ausgerechnet jetzt und hier dargeboten – wollte ich das? Es spielt keine Rolle: Dieses Streichquintett kannst du auch keinem Publikum ausreden. Es passt hierher, als habe Schubert es für die Uhlandshöhe geschrieben: Jubel ohnegleichen!

Berückende Björk-Adaption

Ich habe noch ein paar Titel vom „Late Night Jazz“ mitbekommen, vom Berliner Duo Deep Strings: Anne-Christin Schwarz (Gesang und Jazz-Cello) und Stephan Braun (Jazz-Cello). Zwei Herzen auf samtener Tuchfühlung mit dem Zauber der Sommernacht, eine berückende Björk-Adaption, grandiose Erweiterung des Spektrums mit wenigen Sampling-Zutaten, virtuoses Changieren zwischen allen (un)erdenklichen Streich-, Zupf- und Schlag-Traktierungen ihrer Instrumente, die das alles aufbegehrend mitmachen wie gezähmte Wildpferde. – Wie schade, ich muss mich davonstehlen, die kleine Hundedame daheim hat ihren eigenen Rhythmus. Als ich Eva nochmal kurz zunicke, klingt der Zauber-Jazz immer noch von fern herüber.

Nicht alle Namen wurden erwähnt, die hätten genannt werden sollen.
Zu finden sind sie auf www.festival-uhlandshöhe.de.

Foto Deep Strings: Holger Schneider


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