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Was ist eigentlich ein Konzert?

Lesezeit: 2 Minuten

Foto: Wolfgang Schmidt

Das Stuttgarter Kammerorchester hat für die Saison 2020/21 sein Programm vorgelegt, mit Uraufführungen von Jazzkomponisten und einer „Knastoper“. Außerdem beschäftigen sich die Musikerinnen mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Jürgen Hartmann hat sich beim Intendanten und Künstlerischen Leiter Markus Korselt erkundigt, was es damit auf sich hat.

Jürgen Hartmann: Herr Korselt, in Ihrer Jubiläumssaison spielen Sie drei Auftragswerke als Uraufführung. Zwei davon werden von Jazzkomponisten geschrieben. Ist diese Gewichtung programmatisch?

Markus Korselt: Eher symptomatisch als programmatisch. Wir beschäftigen uns mit der Frage, was ein Konzert eigentlich ist. Darauf gibt es natürlich nicht nur eine Antwort. Aber in jedem Fall ist es wichtig, weniger in Grenzen zu denken. Deshalb hat ein Auftrag für ein Jazz-Violinkonzert den gleichen Stellenwert wie die Uraufführung einer klassisch-klassischen Komposition.

Jürgen Hartmann: Sie sagten gerade „klassisch-klassisch“, um ein Werk der so genannten ernsten Musik zu bezeichnen. Haben diese Begriffe womöglich ausgedient?

Markus Korselt: Ich brauche diese Begriffe nicht, mir würde Musik reichen! Wir begreifen uns als Stuttgarter Kammerorchester in diesem Sinne auch nicht mehr als klassisches Orchester. Es ist eine sehr retrospektive Sichtweise, wenn man nur macht, was sich in der Vergangenheit bewährt hat.

Jürgen Hartmann: Ihre Beschäftigung mit künstlicher Intelligenz geht aber einen Schritt weiter und irritiert vielleicht einen Teil des Publikums.

Markus Korselt: Man darf aber die KI nicht nur der Industrie und dem Militär überlassen. Wir empfinden unsere Beschäftigung mit KI und Digitalisierung nicht als Spielerei. Im Idealfall kommen sogar gemeinsame kreative Prozesse mit dem Publikum zustande. Wir arbeiten an einem Projekt, bei dem Orchester und Publikum in Echtzeit den Verlauf einer Komposition beeinflussen können. Da steht der Gedanke an Teilhabe sogar im Vordergrund!

Jürgen Hartmann: Besteht aber nicht die Gefahr, dass die KI letzten Endes die Live-Musik überflüssig macht? Schaffen Sie sich selbst ab?

Markus Korselt: Ich liebe diese Frage! Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen, aber wir werden tatsächlich öfters darauf angesprochen. Ich denke, mittelmäßige künstlerische Leistungen können mittelfristig von KI übernommen werden, konkret: Die Musik zu einer Vorabendserie kann auch eine KI komponieren. So entstehen Freiräume, echte Kreativität wird besser ermöglicht. Unsere Beschäftigung mit KI ist eine Art von Grundlagenforschung. Wir wollen das Potenzial von KI für einen Zuwachs an kreativen Ausdrucksmöglichkeiten ausloten. Das ist eine lustvolle Arbeit, auch wenn sie manchmal in Sackgassen führt.

Jürgen Hartmann: Sie haben in der kommenden Saison auch eine „Knastoper“ mit dem Rapper Afrob vor.

Markus Korselt: Wir wollen eine Klassik-Hip-Hop-Oper erfinden, mit jungen Häftlingen, die ihre Geschichten dafür aufschreiben. Mir ist aber wichtig, dass das nicht in Rubriken wie „Jazz meets Classic“ einsortiert wird. Wir streben etwas Neues an, das auf dem aufbaut, was wir erhalten wollen. Wir nennen dieses Projekt erstmal Oper, aber es wird eine sehr spezielle Form werden. Die Form ergibt sich aus dem Zweck.

Jürgen Hartmann: Kommt das alles auch bei Rechtsträgern und Sponsoren an?

Markus Korselt: Oh ja! Die Einsicht, dass wir nicht nur Klassik machen können, kommt bei den Rechtsträgern sogar sehr gut an. Ich habe bei all unseren Partnern niemanden erlebt, der diese Öffnung nicht ausdrücklich begrüßt hätte.

Weitere Infos unter www. stuttgarter-kammerorchester.com


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