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Alice Weidel und der zeitlose Theodor

Das Esslinger Podium Festival 2024 engagiert sich mit Musik gegen Rechtsradikalismus. Ob das gelingen kann, wollte Susanne Benda wissen und kommt zu dem Schluss: Ja, es kann – wenn Worte den Klängen zur Seite stehen.

Wie politisch kann Musik sein? Kann sie, nur mit Tönen und Klängen, eine Diktatur anprangern, Demokratie verteidigen? Kann sie appellieren: Wählt keine Rechtsradikalen? Das kleine Esslinger Podium Festival, das sich seit seiner Gründung 2009 mit großer Lust und Wirkung auch am (scheinbar) Unmöglichen abarbeitet, hat genau dies versucht. „Atonal für Deutschland“ ist der Titel der Veranstaltung, und es spricht für sich, dass diese mit Worten beginnt. „Die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus bestehen nach wie vor“, behauptet Theodor W. Adorno 1967. Rezitierte Ausschnitte aus seinem auf erschreckende Weise zeitlos gültigen Vortrag bilden das Rückgrat des Abends.

Dieses Rückgrat ist wichtig. Denn Musik alleine kann nicht konkret sein. Selbst „Dies irae“, das wohl bekannteste, raueste, aufrüttelndste Werk der Russin Galina Ustwolskaja von 1972, transportiert nur Bilder von Tod, Gewalt und Auflehnung. Wogegen, wofür? In jedem Fall, auch so, wie es acht Kontrabassist:innen, eine Pianistin und ein Mann am Holzblock in der Esslinger Frauenkirche präsentieren, dient es der emotionalen Erschütterung. Zu Recht steht das Stück im Zentrum des Konzertes: als sensibilisierendes Klangritual.

Für mehr Konkretion sorgt später ein Kompositum aus Kunst und (politischer) Realität. Elia Rediger hat die Bundestagsrede der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel vom 31. Januar 2024 vertont – oder besser, er hat Weidels Worten charakteristische Klänge zugeordnet. So ist es leichter, das ständig Wiederholte zu erkennen. Hass zum Beispiel: Plötzlich nimmt man wahr, dass dieses Wort in der Rede eine ähnliche Funktion hat wie zuvor der Holzhammer bei Uswolskaja. Dekonstruktion ist das nicht, wohl aber eine Zerstörung durch Überhöhung und Persiflage, und Letztere steht vollends im Vordergrund, wenn Michael zur Mühlen im Video eine gealterte Alice Weidel zeigt, die falsche Reue in kitschige Songs gießt.

Mit anderem Hintergrund ist Ähnliches in Paul Hindemiths launig-böser „Ouvertüre zum ‚Fliegenden Holländer‘, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt“ zu erleben. Für konkrete Erschütterungen sorgt, nach blitzenden Minimalismus-Schleifen in Julia Wolfes bläserdominiertem „Arsenal of Democracy“, am Ende aber dann doch wieder Adorno: Alles Übel liege in der bleibenden Konzentration des Kapitals und in der damit verbundenen permanenten Deklassierung bestimmter Schichten. Haste Töne? Eher nicht. Aber mithilfe der Sprache erhält das Bewegende eine Begründung und die Begründung kann bewegen. Solche Konzerte wären auch jenseits von Esslingen ungemein wichtig.

Foto: Podium Esslingen

Das Podium Festival läuft noch bis 5. Mai:
https://www.podium-esslingen.de/prog/podium-festival-2024/


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