Die Online-Kulturzeitung für Stuttgart und Umgebung


Durchblick (4): Die Jungen als Reklame

Lesezeit: 2 Minuten

Parteien haben es derzeit nicht leicht, und ungebetener Rat ist wohlfeil. Die CDU solle sich bei der Wahl des Vorsitzenden nicht vom Alter der Kandidaten beeinflussen lassen, riet die FAZ. Merz sei nicht altmodisch, weil er alt sei, und Spahn nicht modern, weil er jung sei. Die genannten Herren, Jahrgänge 1955 und 1980, könnten rein rechnerisch Vater und Sohn sein, der Altersunterschied ist also erheblich. Aber, so war es wohl gemeint und an Spahn adressiert, jung zu sein reicht eben nicht.

Die „junge Generation“ übernehme den Bayreuther „Ring 2020“, vermeldete die dpa im Sommer 2019. Es ging dabei vor allem um den recht kurzfristig verpflichteten Regisseur Valentin Schwarz, geboren 1989. Aber es gebe „auch am Pult einen Generationswechsel“. Pietari Inkinen wird seinen 40. Geburtstag hinter sich haben, wenn er den Auftakt zum „Rheingold“-Vorspiel gibt. Um den Neuigkeitswert der Mitteilung einzuschätzen, genügt ein Blick in die Festspielgeschichte: Bei der Premiere des legendären „Jahrhundert-Rings“ 1976 war Regisseur Patrice Chéreau 31. Und Dirigent Pierre Boulez hatte zehn Jahre zuvor in Bayreuth debütiert, mit 41. Man kann noch weiter in die Historie blicken: Siegfried Wagner war bei seiner ersten Inszenierung am väterlichen Weiheort 32, und Hans Richter dirigierte mit 43 bei den allerersten Festspielen 1876 den „Ring“.

Was ich damit sagen will: Wenn man junge Profis engagiert, soll man nicht gönnerhaft mit ihrem Alter Reklame machen, um das schlechte Boomer-Gewissen ein wenig zu entlasten. Man soll sie machen lassen. Ein Regieteam, das die Wendezeit im Mutterleib, allenfalls im Laufstall verbrachte, hat kürzlich in Dresden das Musical „Follies“ im Geniestreich zur DDR-Lektion umgedeutet. Man muss nicht alt sein, um etwas verstehen zu können. Und was die CDU angeht: Adenauer war ein sehr alter Herr, als er den Vorsitz der neuen Partei übernahm, Helmut Kohl hingegen war, auch wenn man sich’s von heute aus kaum noch vorstellen kann, erst 43.

Jürgen Hartmann


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Aktuelle Beiträge

  • Demokratie heute (1): „Schule des Überlebens“ in der Rampe
    Unsere Redakteurin Petra Heinze soll im Theater Rampe lernen, wie sie mit dem Rechtsruck in Deutschland umgehen kann: Die russische Regisseurin Ada Mukhína und der englische Musiker Calum Perrin bieten dort eine „Schule des Überlebens“ an und belegen ihre Expertise mit jahrelangem Überleben in Diktaturen.
  • Traumschwiegersöhne: Die Hanke Brothers mit Eckart von Hirschhausen
    Wir glauben es sofort: „Musik macht glücklich – und rettet die Welt“ heißt eine Veranstaltung des New Classical Music Festivals mit Eckart von Hirschhausen, Pianist Christoph Reuter und den Hanke Brothers, die das Festival initiierten. Unser Autor Holger Schneider war vor Ort.
  • Wie war’s bei Lia Pale im Theaterhaus?
    Lia Pale und ihre Band krempeln unerschrocken das deutsch-österreichische Kunstlied um und machen eine Jazz-Session in Englisch. Die Hugo-Wolf-Akademie lud sie ins Theaterhaus ein. Ein gelungenes Experiment? Ute Harbusch antwortet darauf im Gespräch mit Jürgen Hartmann.
  • François-Xavier Roth tritt beim SWR Symphonieorchester an
    Er wolle keine normalen Programme dirigieren, hat der neue Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters, François-Xavier Roth, angekündigt. In seinem Antrittskonzert spürte er dem Begriff der Sinfonie nach. Normalität stellte sich tatsächlich nicht ein, findet Jürgen Hartmann.
  • Heinzes Tipps des Monats
    Manche Institutionen erweitern schlau ihr Publikum mit Veranstaltungen, die man dort nicht erwarten würde: Das Stadtpalais lädt zum Mitsingen ein, und das Kunstmuseum führt eine Kammeroper auf. Zudem setzt Heinrich Steinfest im Literaturhaus zum Seitenhieb auf den Turbokapitalismus an.