Gleich ein gutes Dutzend großer Dirigenten mit fragwürdigem Benehmen kommt Holger Schneider in den Sinn. Dennoch lautet seine Empfehlung, mit einer öffentlichen Beurteilung oder gar Verurteilung lieber an sich zu halten.
Eigentlich wollte ich richtig böse werden. Ordentlich Dampf ablassen. Ventil auf, komme, was da wolle. Im Pfeifkessel: das Böse in einer der wohl finstersten Facetten der Musikgeschichte. Dirigenten, die das Privileg ihrer Macht nicht ermessen können. Maestri der Selbstermächtigung gegenüber anderen, ausrastende Kapellmeister, unflätige Pultgenossen, jähzornige Stars, cholerische Chorleiter oder wutschnaubende Orchesterdompteure … Wollte vom Leder ziehen, niedermachen und herunterputzen, wollte abwatschen und mir das Maul zerreißen, hier ein wenig dissen, dort wen bashen. Doch auf der Suche nach den bösesten der Bösen, im Bestreben, ihnen das Fell über die Ohren zu ziehen, geriet ich – gottlob! – rasch an eine eigene Grenze: die Unmöglichkeit der Beantwortung der Frage, was denn eigentlich „böse“ sei.
Natürlich wollte ich mit Jean-Baptiste Lully einsteigen. Der Super-Multi-Kulti-Artist des Sonnenkönigs soll sich ja – sofern der Bericht des französischen Aristokraten und Schriftstellers Jean-Laurent Le Cerf de la Viéville auch nur halbwegs zutrifft (immerhin wurde er fast 20 Jahre nach dem Ereignis veröffentlicht) – während einer Motetten-Aufführung Anfang 1687 beim rhythmischen Auf und Ab seines nahezu mannshohen Taktstocks mit dessen Spitze den Vorderfuß dergestalt durchdringend verletzt haben, dass der Wundbrand nebst Weigerung, den durchstochenen Zeh amputieren zu lassen, den alsbaldigen Tod des großen Maître nach sich zog. Inwieweit die wohl prominenteste Selbstverstümmelung der Musikgeschichte dem Jähzorn entsprang, weiß niemand, allerdings deutet vieles darauf hin, dass es sich um eine Probe handelte, bei der Lully im Unmut über die metrische Schlampigkeit des Ensembles seine Cane – einen gewöhnlichen Spazierstock – zu Hilfe nahm und dessen spitzes Ende mit grandioser Verve unweit des avisierten Bodens in sich selbst rammte.
Sodann hätte ich innegehalten beim Paradebeispiel für verbriefte Wutausbrüche (gleichwohl im besseren Vermögen, sie selbst unbeschadet zu überstehen): Arturo Toscanini. Mehr als 100 Taktstöcke soll er zerbrochen haben, es wurden Partituren ins Orchester geschmissen, Notenständer umgeworfen, Garderoben demoliert und Musiker mit dem Dirigierstab traktiert. Kommt mir der Lehrer in den Sinn, der an einer Leipziger Erweiterten Oberschule mit seinem Schlüsselbund nach uns Schülern warf. Kaliber akute Verletzungsgefahr. Wir haben immerhin rasch gelernt, dass Menschen mit derart ausgeprägtem Aggressionspotenzial nicht per se die besseren Lehrer waren. Im Gegensatz zu diesem fragwürdigen Exemplar allerdings bewies Toscanini als Dirigent allerfeinstes Taktgefühl. War er böse? Es wird berichtet, dass die Musiker seines NBC Symphony das Gebaren ihres Chefs stoisch ertrugen, weil sie erkannten, dass es nicht bösartig gemeint war.
Da wollte ich weitersuchen, wollte sie allesamt auffliegen lassen, die Bösen mit der ganzen Bandbreite ihrer Feindseligkeiten, Unverschämtheiten und Beleidigungen, ob sie nun Daniel, Sir Thomas, Sergiu, Wilhelm, John Eliot, Valery, Marek, Herbert, Gustav, Stefan oder Christian heißen oder hießen. Was aber wäre daraus geworden? Nichts weniger als ein hilfloses Konglomerat aus anekdotischer Verbrämung, Wiederkäuen von längst Verdautem, In-einen-Topf-Werfen und Beiseiteschieben, in permanenter Gefahr, Künstlerpersönlichkeiten meinerseits auf beleidigende, gar verletzende Art vor den Karren des eigenen Artikels zu spannen. Weiß ich etwas über zerbrochene tiefe Freundschaften, vermag ich irgendetwas über beidseitig erfolgte seelische Verwundungen zu schreiben?
Ein aus unserem Kessel pfeifender Ton wäre zudem kaum um einen hiesigen Widerhall herumgekommen: jene Dirigenten betreffend, die am Pult des SWR Symphonieorchesters mit ihren Taktstöcken große Fragezeichen in vergangene wie anstehende Entscheidungsprozesse vorgezeichnet haben. Ausgerechnet in solch heiklen Fällen ist es besonders unklug, per definitionem Menschen als böse oder gut, als verirrt oder endgültig geläutert zu erklären; allein deshalb, weil derlei Erklärungen im Zuge bereitwilliger Aufnahme durch diverse Medien schnell zur Verhärtung zwischen Lagern gegensätzlicher Meinung führen oder geführt haben. Es geht dann kaum mehr um den Menschen, schon gar nicht den Künstler, sondern um die scheinbar notwendige Positionierung in einer Fehde, deren schlecht verhohlene Austragung auf allen Seiten Schaden anrichtet.
Spätestens hier schien es mir in der Tat ratsam, den eigenen Kommentar bei sich zu behalten ̶ auch wenn es mitunter schwerfällt. Gleichermaßen sollten jene, die in jedwede Ausprägung unmittelbarer Mitleidenschaft gerieten, jederzeit ein Podium finden, welches ihnen Hilfestellung vor kompetenten wie offenen Ohren ermöglicht. Die anderen, wir, ich, sollten derweil bitte schweigen. Zumindest bis zu einem nächsten unserer Kesseltöne.
Das Foto unseres Autors Holger Schneider stammt von Victor S. Brigola.
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