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Ute Harbusch (Foto von Victor Brigola)

Die durchschnittliche Freude am Schlechten

Ute Harbusch wird philosophisch: In Diderots fiktivem Dialog über Rameaus zynischen Neffen sucht und findet sie Bemerkenswertes – und trifft den Autor zufällig auf dem Zeltplatz…

Ob die Sonne scheint oder ein Gewitter dräut – nichts hält mich ab, regelmäßig um fünf Uhr nachmittags den Kiosk meines Campingplatzes aufzusuchen, wo ich diesen Sommer Urlaub mache. Da sitzen die Stammgäste, spielen Karten und reden, wobei die beste Spieler:in regelmäßig die dämlichsten Bemerkungen von sich gibt. Seit ein paar Tagen sitzt ein Herr in der Ecke und schaut ihnen zu. Er trägt Halstuch und Kniebundhosen und sieht irgendwie altmodisch aus. Es soll der neue Surflehrer sein. Gestern kam er auf mich zu, machte einen Diener – auf einem Campingplatz, ich bitte Sie! – und sprach mich an.

Er: Pardon, Madame. Ich sehe, dass Sie mein Buch in Händen halten.

Ich: Ja, für unsere Sommerserie soll ich einen Beitrag über die Frage schreiben, warum hervorragende Künstler schlechte Menschen sein können. Ich hoffte, in „Rameaus Neffe“ ein paar schlaue Aperçus zu dem Thema zu finden.

Er: Und, haben Sie?

Ich: Habe ich. Hier behauptet zum Beispiel der Neffe Jean-François Rameau, es seien immer die Genies gewesen, die das Schlechte in die Welt gebracht hätten. Und hier sagt er, jedermann lobe die Tugend, aber in Wahrheit fliehe und hasse man sie. Und was Sie sie sich selbst in den Mund gelegt haben in Ihrem Dialog, gefällt mir auch:  Sie sagen, wie vom Wort Gesang habe man auch von den Worten Ansehen, Schande, Ehre, Laster, Tugend, Schamgefühl, Anstand, Peinlichkeit und Lächerlichkeit nur ungenaue Vorstellungen. Jetzt muss ich allerdings überlegen, wie ich das in eine brauchbare Textform bringe. Darf ich derweil Sie fragen, was Sie hier machen? Stimmt es, dass Sie der neue Surflehrer sind?

Er: Das stimmt. Surfen ist meine große Leidenschaft. Auf dem Wasser und übrigens auch im Internet. Was für eine grandiose Erfindung! Das ganze Wissen, nun ja, beinah das ganze Wissen der Epoche, zur Verfügung gestellt und durch Querverweise miteinander verbunden! Jetzt braucht uns Enzyklopädisten niemand mehr. Wir sind arbeitslos und schlagen uns so durch. Ich versuch’s als Surflehrer in dieser vergessenen Ecke von Rügen.

Ich: Welch glücklicher Zufall. Da kann ich ja gleich meine Kritik loswerden an einer Stelle, die ich in Ihrem Dialog ziemlich enttäuschend fand. Gegen Ende fragen Sie Rameaus Neffen rundheraus, wie es sein könne, dass er so ausgezeichnet in Sachen Musik empfinde und so miserabel in Sachen Moral. Und lassen ihn darauf eine nichtssagende Antwort geben: Das komme wohl von seiner Natur, seiner Erziehung und seinem Vater.

Er: Jaja, Physis, soziales Milieu, Vererbung … Das war damals so eine fixe Idee von mir.

Ich: Und immer spielen Sie den Guten, reden brav und vernünftig, während Sie dem Neffen wirklich verstörende Dinge in den Mund legen. In der Moral gebe es kein Richtig oder Falsch, sondern es komme immer darauf an, was von einem erwartet würde. Behauptet er. Sie sind fein raus, haben nichts Böses gesagt, aber den Dialog erfunden und gedruckt haben natürlich Sie.

Er: Alter Aufklärertrick. Dialog statt Doktrin.

Ich: Am Schluss immerhin sind Sie beide sich einig. Wir alle, schreiben Sie, spielen eine Art soziale Pantomime und nehmen unnatürliche Posen ein: der Habenichts gegenüber dem Reichen, der Abhängige gegenüber dem Freien, der Untergebene gegenüber dem Höherstehenden.

Er: Ich dachte, mit Einführung eurer Demokratie hätte sich diese soziale Pantomime erübrigt.

Ich: Vielleicht hat sie im Reich der Kunst überlebt. Da gibt es immer noch dieses Machtgefälle, diese selbstherrlichen Dirigent:innen, Regisseur:innen, Maler:innen, Intendant:innen …

Er: Und keineswegs nur da. Schauen Sie, mit einem Blick ins Internet erfahren Sie, dass es eine Straftat ist, die Sie über 10.000 Euro kosten kann, jemandem gegen seinen Willen ein Dick Pic zu schicken. Und dann surfeln Sie weiter, hier, Men’s Health: „How to Take a Good Dick Pic: 10 Tips From Sex Experts“. Oder da, Cosmopolitan: „Wie sieht ein attraktives Penisfoto überhaupt aus? 10 Frauen erklären, wann ihnen ein Dick Pic gefällt.“

Ich: Und schon wieder sind die Frauen selbst schuld! Das müssen Sie grade sagen! Ehemann und Vater und gleich ein ganzer Haufen Nebenbeziehungen. Lesen Sie’s doch nach in Ihrem Wikipedia-Eintrag! Oder unser großer Goethe, der Ihren Dialog übersetzt hat: Braucht fast zwanzig Jahre, bis er seinen Bettschatz endlich heiratet. Und da gibt’s noch mehr Genies, die sich unmöglich gegenüber ihren Frauen verhalten haben: Gerhart Hauptmann, Gustav Mahler, Albert Einstein, Charles Lindbergh. Oder denken Sie an Le Corbusier, an Alain Delon, lauter geniale Ekelpakete.

Er: Aber, aber, Madame, da ereifern Sie sich ja regelrecht.

Ich: Das ist der Neid. Der Durchschnittliche freut sich, wenn er Schlechtes von großen Menschen erfährt. Das macht sie nahbarer. Sagt Rameaus Neffe. Apropos Neffe: Hat nicht unser unsterblicher Beethoven seinen Neffen so lange gequält, bis der sich das Leben nehmen wollte?

Er: Beethoven! Quel génie! Den hätte ich gern noch kennengelernt. Unser Jean-Philippe Rameau war übrigens gar nicht so hartherzig, wie sein Neffe ihn schildert. Nur seine Musik wurde uns auf die Dauer fad wie eine dünne Suppe. Übrigens: Der Koch hat heute Soljanka im Angebot. Und ich bin wieder mal völlig abgebrannt.

Also spendierte ich uns zwei Portionen Soljanka und einige Gläser Bier. Wir setzten unsere angeregte Unterhaltung fort, bis der surfende Philosoph leicht schwankend in seinen Wohnwagen zurückkehrte.

Denis Diderots philosophischer Dialog „Herrn Rameaus Neffe“ finden Sie in Goethes Übersetzung vollständig unter https://www.projekt-gutenberg.org/diderot/neffe/chap001.html. – Unsere Redakteurin Ute Harbusch wurde von Victor Brigola fotografiert.


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