Eine ungewöhnliche Mischung aus Originalwerken, Bearbeitungen und Improvisationen steuert die Dommusik St. Eberhard zur Bachwoche Stuttgart bei, geleitet von Domkapellmeisterin Lydia Schimmer. Jürgen Hartmann sprach mit ihr.
Jürgen Hartmann: Frau Schimmer, was macht eigentlich eine Domkapellmeisterin?
Lydia Schimmer: Das ist ein sehr vielfältiger Beruf! In erster Linie bin ich die Leiterin der Dommusik insgesamt und muss den Überblick behalten über Mitarbeiter und Chöre. Gleichzeitig leite ich die Domsingschule. Natürlich habe ich Unterstützung bei der Verwaltungsarbeit. Deshalb kann ich hauptsächlich Chöre leiten: Die zwei älteren von vier Chorgruppen der Mädchenkantorei, die Domkapelle als Erwachsenenchor. Ich organisiere das Konzertprogramm im Dom und ein Schwerpunkt ist die Gestaltung der Gottesdienste, in denen ich auch oft selbst die Orgel spiele. Und ich betreibe viel Networking mit anderen Kultureinrichtungen und strebe Kooperationen an, wie jetzt mit der Bachakademie, auch schon mit Staatsoper und Staatsballett.
Jürgen Hartmann: Sie sind rund eineinhalb Jahre in diesem Amt. Was hat Sie am meisten überrascht?
Lydia Schimmer: Ich war zuvor seit 2016 Domkantorin und kenne die Stadt schon sehr gut. Überrascht hat mich aber, dass mir das neue Amt als Domkapellmeisterin so viele neue Türen geöffnet hat. Ich finde, das ist bemerkenswert, dass in Deutschland doch viel vom Titel abhängt.
Jürgen Hartmann: Nun gilt Stuttgart, bewusst pauschal formuliert, als ziemlich protestantische Stadt. Spielt das eine Rolle für Sie?
Lydia Schimmer: Das spielt tatsächlich eine große Rolle. Ich komme aus Baden, aus der Freiburger Diözese, und dort ist vieles stark katholisch geprägt. Jeder weiß, wo die Kirche steht, wo man hingehört, wenn man katholisch ist! In Freiburg weiß man, wer Domkapellmeister im Münster ist. Hier in Stuttgart fragt man, wenn ich sage, ich bin Domkapellmeisterin: Wer bist du, wo bist du, was machst du?
Jürgen Hartmann: …und wo ist der Dom?
Lydia Schimmer: Ja, das auch! Es ist schon so, dass unsere Kirche nicht so bekannt ist, weil man in der Königstraße leicht an ihr vorbeiläuft. Viele, mit denen ich spreche, denken, ich sei an der Stiftskirche tätig. Unsere Gemeinde ist gar nicht klein, und es kommen auch Gäste von auswärts, weil sie wissen, hier findet gute Musik statt. Wir haben mit Christian Hermes einen Pfarrer, der sehr gut predigt, auch aktuelle Themen kritisch anspricht. Aber das Katholischsein ist nicht selbstverständlich in der Stadt und man fühlt sich manchmal als Fremdkörper. Bach als protestantischer Komponist ist aber überhaupt nicht problematisch, ich bin totaler Bach-Fan, spiele seine Orgelmusik und wir bauen regelmäßig Bach-Kantaten in unsere Gottesdienste ein.
Jürgen Hartmann: Ihr Konzert zur Bachwoche hat ein ungewöhnliches Programm. Weichen Sie gerne vom Schema F ab?
Lydia Schimmer: Ich versuche, neben festgefügten Werken wie einer Johannes-Passion, die man natürlich sehr gerne aufführt, ein bis zwei Mal jährlich Alt und Neu zu konfrontieren, um ein wenig wachzurütteln und Kontraste zu zeigen. Damit holen wir das Publikum aus der Komfortzone und man durchbricht Erwartungshaltungen mit Überraschungen. Aber ich will auch Bögen spannen aus früherer zu heutiger Zeit, denn es gibt ja immer Parallelen. Für das Programm zur Bachwoche war es erst einmal gar nicht leicht, Passionsstücke für Mädchenchor zu finden. Da gibt es aus früheren Epochen fast nichts, aber Brittens „Children’s Crusade“ ist ein so aktuelles Stück und passt zur aktuellen Situation mit den Kriegen in der Ukraine und in Nahost. Im Grunde wird sogar der aktuelle Rechtsruck aufgegriffen. Es ist alles unglaublich präsent, in dem Stück kommen Protestanten, Katholiken, Juden vor, Sozialisten und Nazis. Es geht um einen Kreuzzug der Kinder zum Frieden, um eine Flucht vor dem Krieg. Es gibt also gute Gründe, dieses Werk von Britten zu spielen! Ich setze es in Verbindung mit drei von Telemanns Biblischen Sprüchen, in denen es um Hoffnung und Vertrauen geht, um das Gute im christlichen Glauben, um die Haltung: Egal wie schlecht es mir geht, es gibt etwas, das mich retten kann, jemanden, der mich auffängt. Und wir beziehen auch den Eröffnungschoral des zweiten Teils aus der Bachschen Johannes-Passion mit ein.
Jürgen Hartmann: Darüber hinaus stehen eine moderne Bach-Bearbeitung und Improvisationen auf dem Programm.
Lydia Schimmer: Sebastian Bartmann hat unter dem Titel minimalBach das Wohltemperierte Klavier im Stil der Minimal Music für zwei Klaviere bearbeitet, was ganz neue Klangwelten öffnet. Das finde ich sehr spannend und es schafft einen weiteren Bogen zwischen Barock und heutiger Zeit, ähnlich wie Telemann und Britten. Für die Chor-Improvisationen habe ich zwei Choräle ausgesucht, die von der Orgel begleitet werden.
Jürgen Hartmann: Aber wie probt man Improvisationen, zumal mit einem jugendlichen Chor?
Lydia Schimmer: Wir haben das schon öfter gemacht, aber ein bisschen Kichern ist immer dabei! Erstmal ist natürlich wichtig, die Mädchen vorzubereiten, damit sie sich auch trauen, frei ihre Stimme zu erheben! Ich habe mir einige Parameter überlegt, unter denen die Mädchen improvisatorisch mit den Chorälen umgehen. Beispielsweise nehmen wir das Anfangsthema eines Chorals und ich sage, die Mädchen können mit diesem Thema frei umgehen, mit eigenem Rhythmus, eigenem Tempo, eigener Lautstärke spielen. Man kann sprechen, zischen, schreien, einzelne Wörter betonen. So entstehen spontane Klänge, Cluster, Stimmungen, die man vorher gar nicht abschätzen kann.
Foto: Heiko Tiedmann
Das Chorkonzert zur Passion findet am Samstag, 9. März in der Domkirche St. Eberhard statt. Informationen dazu gibt es auf der Website der Bachakademie. Weitere Informationen zur Dommusik findet man mit diesem Link.
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