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Busoni, der unerhörte Europäer

Wegen des Männerchors ins Konzert, enttäuscht wegen dessen allzu kurzen Auftritts – aber unverhofft überwältigt und begeistert von Ferruccio Busonis Klavierkonzert: So erging es unserem Rezensenten Holger Schneider im Konzert des SWR-Symphonieorchesters.

Zugegeben: Mein Zündplättchen war zunächst das Wort „Männerchor“. Der jedoch trat im ersten Teil bereits nach wenigen Minuten wieder ab, um dann die letzten zehn des zwoten noch mit seinem Diesel zu beknattern. Alles in allem eine kaum relevante Zeitspanne… Vielleicht hätte die deutlich verkorkst wirkende Auf-Ab-Situation zu Beginn – lediglich für die zwei a-cappella-Strophen von Sibelius‘ „Finlandia“ betraten die Herren die Chorbühne – durch eine etwas freiere Programmgestalt aufgefangen werden können? War die Beschränkung auf Sibelius als Busoni-Freund auch dramaturgisch zwingend auf die beiden Komponisten reduziert? Welche Idee sollte da ggf. transportiert werden? Stand eh nicht nur „BUSONI GERSTEIN“ auf den Plakaten? Hätten wir nicht, beispielsweise: als herrlichen Rausschmeißer-Ohrwurm für das Ende des ersten Programmteils, einen dicken Grieg haben können – „Landkjenning“ op. 31 meine ich natürlich! Da hat man schonmal so viele tolle Manneskehlen da oben stehen, und schon verschwinden sie wieder? Ohne dieses Schmankerl? Unerhört! Besetzungsmäßig hätte es prima hingehauen, wahrscheinlich ohne jeden Umbau (Orgel ad libitum: warum nicht?), flugs einen Bariton aus der Oper ausgeborgt. Und der Chor hätte die 20 Minuten Sibelius-Sinfonie auf der Empore schadlos überdauert und weder ihrem Schöpfer noch seiner Siebten etwas Böses antun können. Wenn man sie nur gelassen hätte…

Sei’s drum, mit abgeschmauchtem Zündplättchen ging’s ins Unerhörte nach der Pause: Ferruccio Busonis Klavierkonzert op. 39, mit knapp 75 Minuten Spieldauer das längste seiner Art im Repertoire überhaupt, eine Herausforderung an alle Anwesenden. Für den Berserker am Flügel insbesondere, musste er sich doch einem der größten Klaviervirtuosen aller Zeiten ebenbürtig erweisen: Busonis Werk konnte seinerzeit nur von Busoni selbst gespielt werden, und sicher war der irrwitzige Solopart ein Grund für sein schnelles Verschwinden aus dem Repertoire – bis heute. Im Einführungsvortrag von Meinhard Saremba wie im Programmhefttext von Michael Kube war vergleichsweise ausführlich die Rede von einer Zeichnung, die Busoni 1904 von Heinrich Vogeler in Worpswede nach eigener Skizze hatte anfertigen lassen, und die die fünf Sätze des Konzerts bildlich erläutern sollte. Zur Skizze gibt es eine Anmerkung Busonis (Brief an seine Frau Gerda, Juli 1902), sie solle „die Idee meines Clavier-Concertes in einem architektonisch-landschaftlich-symbolischen Bild zusammenfassen. Die drei Gebäude sind der 1., 3. und 5. Satz, dazwischen die beiden ‚lebendigen‘: Scherzo und die Tarantella; das erste als Naturspiel einer Wunderblume und eines Wundervogels – das zweite durch Vesuv, Cypressen dargestellt. – Über dem Portal geht die Sonne auf; an der Türe des Schlussgebäudes klebt ein Siegel; das geflügelte Wesen am Ende meint die Naturmystik von Oehlenschlägers Chor.“ –

Umso weniger begreiflich, dass das Publikum im Beethoven-Saal diese Zeichnung nicht zu Gesicht bekam, die immerhin als Titelgrafik der Erstausgabe erschienen war. Lag es an der schütteren Qualität des offenbar einzigen Digitalisats bei imslp.org (vgl. Abb.)? Ich habe jedenfalls eine der raren Breitkopf-Ausgaben von 1906 per Fernleihe bestellt und werde die Lithographie exklusiv für die Kesseltöne in bester Qualität nachreichen! Habe ich mich doch wirklich über die Nicht-Abbildung geärgert. Darf ich es mir andererseits erlauben, über das Gehörte meine Eindrücke verbal aneinanderzureihen? Ich halte es punktum für unerlässlich, auch wenn die Zumutung des Umfangs dieses Kesseltons ähnlich ungebührlich zu geraten droht wie seinerzeit die Dimensionen der Komposition (Busoni hat seinem Werk später in sachter Selbstkritik den Spitznamen „Wolkenkratzer-Konzert“ verpasst):

I. Prologo e Introito – Tableau, Pianist wartet erstmal fünf Minuten auf seinen Einsatz, mähliches Ausbreiten und Sichverlieren gleichzeitig, dann Brandungen, Ergüsse, Schwarzweißzackiges! Erstes Entzücken nach einer hinauswogenden Klavierkadenz: wunderzartes Innehalten im intimen Dialog zwischen Klavier und Oboe, dann Flöte. Jäh wallt Wagner auf, wird in die Schranken gewiesen. Die weite Landschaft – tiefe rote Wonne!

II. Pezzo giocoso – Hüpfend, rennend, gackernd! Trillernd, schillernd, glitzernd! Flitternd, schießend, zwitschernd! Funkelnd, flunkernd, schmunzelnd! Wundervogel und Zauberblume, doch ach! Brutaler Bruch: ein dahinstürmender Totentanz, strudelnd, alles fortreißend, diabolisch bebend. Herzensbeben: ein neapolitanisches Seemannslied auf den Tod der Geliebten (Fenesta ca lucive), Serenata zur Guitarra…

III. Pezzo seriososo – geniales Konstrukt, folge ihm mit allen Sinnen, nimm Nuancen wahr, es zieht sich auch ein wenig… Choral. Klagelied. Lamentatio. Kirill Gerstein hier in Höchstform, mithin größte Gestaltungsfreiheit und verrückte Endlos-Kaskaden für den Pianisten, Dramatische dialogische Verflechtungen, über einen Hauchklang à la Chopin-Nocturnes geht es am Schluss ins Idyll.

IV. All’ Italiana – Sonnentanz durch die Tonarten. Rossini hat vorgekocht, wird aber von Busoni mit einem Orkan aus Knoblauchduft vertrieben. Steigerung um Steigerung, Extase, der Vesuv bricht aus! Grandioses, propellerndes Tschingderassassa-Bumm-Bumm, harlekineskes Varieté! Der alberne Marsch wird auf die Tarantella gestülpt, der Solist versucht, im irren Reigen mit einem Mix aus Machbarkeit und Mimik nicht unterzutaumeln. Genial der Schluss: von dynamisch-rhythmisch aufgetürmter Bizarrerie über ein paar scheinbar ironische Schlussakkord-Schatten-Pizzicati (es wird gelacht im Publikum!) in den letzten Satz:

V. Cantico – Nochmal richtig ernst. Wundervolle Einleitung. Kaleidoskop der Erinnerungen. Warten auf den Einsatz der Männer: aus dem Nichts, weil unsichtbar, wenngleich wir sie sehen und bestens hören können, da oben auf der Beethovensaal-Campagna, die 48 brav gekleideten Herren der Florian-Helgath-Schmieden Chorwerk Ruhr und Zürcher Sing-Akademie. Und sie tun es makellos, feinstens abgestuft, von fast unhörbar bis schmetternd, zaubern die mystische Hymne an Allah auf den deutschen Text des dänischen Dichters Oehlenschläger: „Hebt zu der ewigen Kraft Eure Herzen“ aus dem Drama „Aladdin oder die Wunderlampe“, das Busoni zeit seines Lebens fasziniert hat.

Am Ende Überwältigtsein allenthalben, viel Begeisterung für Kirill Gerstein, Männerchor, SWR-Symphonieorchester und Dirigent John Storgårds – völlig zu Recht! Und wenn ich mir das neue Zündplättchen noch zurechtmachen darf: Wann immer Busoni wieder auf dem Programm steht, sollten wir hin! Ein Europäer ohne Grenzen, ein Feingeist in so vielen Sprachen und Künsten, hat uns eine zutiefst europäische Musik hinterlassen, in Worten, Bildern und bislang weitgehend unentdeckten klanglichen Geheimnissen. In diesem Fall zudem ein pantheistisches Erlösungsdrama in Konzertform, in dessen Mittelpunkt (wie etwa im Parsifal) die reine Unschuld steht: Nur sie kann die magische Grotte und die Wunderlampe finden. Wunderlampen-Magie also? Mehr noch: ein zutiefst menschliches Werk, mit dem sein Schöpfer offenbar bemüht war, unser, nein: das eigene Dasein vom Sonnenaufgang bis zum Vergehen nachzuzeichnen.

Abbildungen: Foto von Ferruccio Busoni von 1895 (Wikimedia Commons, nachkoloriert), Zeichnung von Heinrich Vogeler von 1904 (imslp.org)


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